Category: Impuls 3

  • Interview Eden Kupermintz

    Portrait von Eden Kupermintz – Credits Twitter / Website.

    Interview mit Eden Kupermintz

    Wir freuen uns im Gastimpuls dieser Ausgabe Eden Kupermintz zu begrüßen. Mit einem Hintergrund in Geschichte, Philosophie und Webentwicklung, sowie seiner Leidenschaft für Science Fiction, Musik und Kultur, hat Eden nicht nur umfangreiche schriftstellerische Erfahrung, sondern auch Einblicke in verschiedene Aspekte der Zukunftsforschung. In diesem Interview werden wir mit Eden über seinen Artikel “Designing Tomorrows” sprechen und dabei nicht nur auf die spekulative Praxis der Science Fiction eingehen, sondern auch auf seine persönlichen Gedanken zu den kreativen Methoden der Zukunftsvorhersage. Willkommen!

    Als jemand, der in verschiedenen Bereichen in utopische und futuristische Kontexte involviert ist, wie nehmen Sie die Rolle von Utopie und Dystopie im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs über die Zukunft wahr?

    Ich würde tatsächlich sagen, dass die derzeitige Rolle von sowohl Utopien als auch Dystopien in unserem aktuellen Diskurs keine gute ist. Beide fungieren als eine Art Schlafmittel, das das Bedürfnis stillt, über die Zukunft zu sprechen und nachzudenken, ohne konkrete Wege in die Zukunft oder sinnvolle materielle Kritiken an unserer Gegenwart anzubieten. Das muss nicht der Fall sein. Wenn Utopien sich beispielsweise auf die komplexen Prozesse konzentrieren, die zu ihrer Entstehung führen können, anstatt das imaginäre Endergebnis zu verherrlichen, können sie ein starker Katalysator für unmittelbares Handeln sein. Auch Dystopien können als “Negativindikatoren” dienen, indem sie ein Licht auf die gegenwärtigen Prozesse und ihre Endresultate werfen, anstatt sich auf den Nervenkitzel zu stürzen, den wir durch die Konzentration auf ihre zum Scheitern verurteilte Zukunft erhalten.

    Unterm Strich müssen Utopien und Dystopien prozessorientiert sein, wenn sie im aktuellen Diskurs nützlich sein sollen. Anstatt zu fragen “Wie sähe es aus, wenn wir hier landen würden?” sollten sie fragen “Nehmen wir an, wir würden hier ankommen. Wie sah der Weg dorthin aus?”

    Die Idee des gemeinsamen Erschaffens von Zukünften ist faszinierend. Wie können Gemeinschaften aktiv an der Vorstellung ihrer Zukünfte teilnehmen, und welche Beispiele haben Sie erlebt, wo dieser kooperative Ansatz erfolgreich war?

    Am Ende des Tages ist die Zukunft ein unbekanntes Territorium, in das wir alle unsere Ängste, Hoffnungen, Annahmen und Vorurteile gießen. Die Zukunft ist kein Ort oder eine Zeit – sie ist ein Werk, sie entsteht. Wir haben diese Vorstellung (übernommen aus der Romantik des 19. Jahrhunderts, zufälligerweise viel davon Germanisch) dass ein Werk in Isolation, durch das “Genie im Turm”, geschaffen wird. Aber die Wahrheit ist, dass alle großen Werke in Zusammenarbeit geschaffen werden, zwischen Wissenschaftler*innen und Assistent*innen, zwischen Musiker*innen und ihrer familiären Geschichte, den Liedern, die sie auf der Straße hören, und dem Rest ihrer Kultur. Zwischen einer Gruppe von Menschen, die sich etwas Neues vorstellen und ihm die Kraft und den Kontext geben, aus dem es entsteht.

    Das beste alltägliche Beispiel dafür ist jeder einzelne Gemeinschaftsgarten, den Sie je gesehen haben. Vor dem Gemeinschaftsgarten steht ein Stück Land. Die Menschen kommen zusammen, um sich gemeinsam vorzustellen, wie diese Fläche aussehen könnte, was sie enthalten könnte und welchen Nutzen sie haben könnte. Sie stellen sich gemeinsam eine Zukunft vor und machen sich dann daran, sie zu verwirklichen. Manchmal werden diese Gärten von Hierarchien aufgebaut, manchmal von Netzwerken. Aber das Entscheidende ist, dass die Menschen einen Weg finden, sich eine Zukunft vorzustellen, in der es einen Garten gibt, und dann machen sie ihn wahr. Natürlich sind Dinge wie Kommunismus, Weltraumforschung, ein Ende der Ungleichheit usw. viel größer und komplexer, aber sie nutzen denselben “Muskel”, nämlich unsere Fähigkeit, zusammenzukommen und gemeinsam etwas zu schaffen.

    Angesichts Ihrer Arbeit an der Pflege eines Online-Archivs wie anarchySF, wie sehen Sie die Rolle digitaler Plattformen bei der Demokratisierung spekulativer Praktiken und der Visionierung zukünftiger Entwicklungen?

    Gar nicht 🙂 Digitale Plattformen sind wichtig und haben eine Menge Macht und Potenzial, aber sie sind einfach nur ein Hilfsmittel, mehr Nährboden als alles andere. Die Netzwerke, die sie schaffen, diktieren den Schwung und die Geschwindigkeit einer Idee, ihre Energie, aber sie führen nicht von Natur aus zu demokratischeren oder gemeinschaftlicheren Ideen. Es liegt an uns, unsere Vorstellungen von der Gestaltung der Zukunft zu hinterfragen, neue und interessante Wege zu finden, um gemeinsam Geschichten darüber zu erzählen, was kommen könnte und was wir sehen wollen, und dann digitale Plattformen zu nutzen, um diese Ideen zu verbreiten und zu ermöglichen. anarchySF ist ein gutes Beispiel – es verbreitet “nur” bestehende Gedanken über verschiedene Zukünfte. Das Archiv selbst ist in keiner Weise revolutionär – es ist einfach ein Gefäß für andere revolutionäre Ideen.

    Schmetterlinge die auf einem blühenden Zweig sitzen, alles ist leicht blau getönt.

    Foto von Karina Vorozheeva auf Unsplash

    Sie betonen die Hoffnung, die in fantastischer, merkwürdiger Science-Fiction steckt, die bestehende Normen herausfordert. Welche Werke oder Projekte würden Sie als Beispiele für diese Art von Science-Fiction empfehlen?

    Meine Lieblingsfrage! Hier ist eine schnelle Liste:
    Elvia Wilk – Oval
    Becky Chambers – To Be Taught If Fortunate
    Jeff Vandermeer – Dead Astronauts und/oder The Strange Bird
    Alex Jennings – The Ballad of Perilous Graves (Fantasy)
    Brian Catling – The Vorrh Trilogy (nicht Sci-Fi, aber auch nichts anderes)
    David R. Bunch – Moderan
    M. John Harrison – Light
    Missouri Williams – The Doloriad
    Rivers Solomon – An Unkindness of Ghosts
    Bonus: Kameron Hurley – The Stars Are Legion.

    Wenn Sie tiefer in eines dieser Beispiele oder meine Gedanken zur revolutionären Science-Fiction eintauchen möchten, können Sie sich diese Episode ansehen, die ich mit dem ausgezeichneten Acid Horizon Podcast gemacht habe, oder meinen Essay über radikale Science-Fiction lesen (er ist lang!).

    Vielen Dank für das schöne Gespräch, Eden!

  • Digitale Kultur und internationale Projekte

    Foto: https://pinaryoldas.info/WORK/Designer-Babies-2013

    Digitale Kultur und internationale Projekte

    In unserem Kulturimpuls präsentieren wir spannende Projekte, Künstler:innen, Spiele u.v.m. rund um digitale Kultur und gesellschaftlichen Wandel. Dieses Mal u.a. mit Pinar Yoldas und einer digitalen Aktivismusbewegung!

    Pinar Yoldas – Dark Botany

    Pinar Yoldas, die bereits mit fünf Jahren ihre Kunst in der Türkei ausstellte, entdeckt heute als Designerin, Künstlerin und Forscherin verschiedene Kunstformen, um sich Themen wie Posthumanismus, Neurowissenschaften und feministischer Technowissenschaft zu widmen. Mit Projekten wie „An Ecosystem of Excess“, welches ein posthumanes Ökosystem aus imaginierten Organismen darstellt, oder mit „The Kitty AI: Artificial Intelligence for Governance“, einer Regierung, die von einer Katzen AI geführt wird, erforscht Yoldas spielerisch die Grenzen zwischen Wissenschaft, Technologie und Kunst. In ihrer Doktorarbeit „Spekulative Biologie: Neue Wege der Kunst im Zeitalter des Anthropozäns“ erkundete Yoldas außerdem Themen Ökozid, Unwahrnehmbarkeit und das Anthropozän. Yoldas verbindet spannende interdisziplinäre Elemente auf unerwartete Weisen und schafft damit innovative Kunstwerke, die zum Nachdenken anregen. Hier könnt ihr ihren re:publica Vortrag vom letzten Jahr zum Thema „Dark Botany:Speculative Biology for Climate Crisis“ anschauen.

    Pinar Yoldas: An Ecosystem of Excess, Ausstellung im Projektraum der Schering Stiftung, Detail “Stomaximus”, 2013.

    Be Water“ – The Future of Protest 

    Die Proteste in Hong Kong von 2019 bis 2020 zeichneten sich besonders durch innovative und künstlerische Formen von digitalem Aktivismus aus. Unter Einbezug von Musik und verschiedensten Technologien, konnten Aktivist*innen anonym und großflächig auf die Konsequenzen des geplanten Auslieferungsgesetzes aufmerksam machen, welches, unter anderem, die Auslieferung von Gefangenen an die Volksrepublik China beinhaltet. Der digitale Aktivismus wurde genutzt, um auf alternativen friedlichen Wegen Meinungen zu äußern ohne aktiv an den Protesten teilzunehmen. Auf diese Weise konnten Aktivist*innen durch die Nutzung von Pseudonymen ihre Identität schützen und zugleich große Menschenmassen erreichen. Die Protest-Kunst wurde inspiriert von Popkultur und den bildenen Künsten, dabei diente eine humorvolle Art und Weise dazu, die Spannung aus der Lage zu nehmen. Die Protest-Kunst bediente sich oft japanischer Anime und anti-autoritären Themen. In 2020, wurden die Hongkonger Aktivist*innen für ihren innovativen und kreativen digitalen Protest mit der Goldenen Nicas der Ars Electronia ausgezeichnet. Eric Siu und Joel Kwong reichten die Bewegung unter dem Titel „Be Water“ bei dem Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft ein. Die Bezeichung „Be Water“ spielt auf eine Aussage von Bruce Lee und meint die Fähigkeit sich Situationen entsprechend anzupassen und transformationsfähig zu sein. 

    Bruce Lee: “Be formless, shapeless, like water. Now you put water into a cup, it becomes the cup. You put water into a bottle, it becomes the bottle. You put it in a teapot, it becomes the teapot. Now water can flow or it can crash. Be water, my friend.”

    Diese Philosophie wurde von den Hongkonger Aktivist*innen adaptiert, indem sie durch die extrem dezentralisierte Bewegung stets ungreifbar für die Staatsgewalt blieben. 

    Foto von Chris Yang auf Unsplash

    Afrofuturismus 2.0: Das Black Speculative Arts Movement 

    Das Black Speculative Arts Movement ist eine globale Community der Afrikanischen Diaspora, die mithilfe von neuen spekulativen Methoden Wege sucht eine inklusivere zukünftige Gesellschaft zu schaffen. Die Bewegung vereint Künstler*innen und Interlektuelle aus verschiedensten Bereichen, unter anderem, dem Afrofuturismus, der Astro Blackness, oder den Black Science Fiction. Sie alle vereint sowohl die Auseinandersetzung mit dem Spekulativen und Design als auch mit Technologie und Ethik. Quentin VerCetty Lindsay ist Mitbegründer und Direktor des Black Speculative Arts Movements. In seiner Arbeit verbindet er die zweite Welle des Afrofuturismus mit neuen, inklusiven und intersektionalen Perspektiven auf öffentlichen Raum. Sein Projekt „Missing Black Technofossils Here“ ist ein futuristisches Werkzeug, um darauf aufmerksam zu machen, dass es zu wenige Denkmäler Schwarzer Körper in Teilen Kanadas gibt. VerCetty entwirft für das Projekt imaginäre Denkmäler für historische und gegenwärtige lokale Schwarze Persönlichkeiten, die an futuristischen öffentlichen Orten ausgestellt werden. Der Afrofuturismus 2.0 zeichnet sich insbesondere dadurch aus Gegengeschichten zur eurozentristischen Erzählung zu entwerfen und Wissen zu ergänzen. Damit rückt er Schwarze Leben und ihre Erfahrungen in den Vordergrund, um Schwarze Zukünfte zu imaginieren. 

    Joshua Glover Memorial: July 30, 2021. Image of monument sculpture entitled “Stepping Forward Into History” photo by Jose San Juan


    H.O.R.I.Z.O.N.

    Habitat One: Regenerative Interactive Zone of Nurture 

    H.O.R.I.Z.O.N. oder „Habitat One: Regenerative Zone of Nurture“ ist ein multi-player Computerspiel von dem Kunstkollektiv Institute of Queer Ecology und wurde für die Guggenheim Ausstellung 2020 namens „Countryside, The Future“ entwickelt. Das Spiel wurde zu einem Zeitpunkt kreiert als es wegen des Covid-19 Virus nicht möglich war in Ausstellungen zu gehen. Das zum Download bereitstehende H.O.R.I.Z.O.N. bot daher als partizipatives Kunstwerk innovative Möglichkeiten, an Künstler*innen- Vorträgen und Workshops teilzunehmen. Besucher*innen konnten außerdem Teil der interaktiven ‚digitalen Kommune‘ werden und so ihre Umwelt entdecken. Weltweit imaginieren Künstler*innen zukünftige Realitäten ohne Diskriminierung und erforschen gleichzeitig welche Rolle Technologien hierbei spielen können. Im Gegensatz zu großen Tech-Giganten, die oftmals eine kapitalistische Agenda verfolgen, versuchen viele digitale Künstler*innen den Nutzen von digitalen Technologien für marginalisierte Gruppen und mehr Klimabewusstsein hervorzuheben.

  • Designing Tomorrow(s) – Science-Fiction als Werkzeug

    Foto von and machines auf Unsplash

    Designing Tomorrow(s) – Science-Fiction als Werkzeug

    Die Zukunft ist seltsam. Das liegt einerseits daran, dass sie noch nicht existiert, andererseits jedoch daran, dass sie irgendwann existieren wird und dazu noch ihre Wurzeln in der Gegenwart hat. Wir können sie uns vorstellen, darüber nachdenken, sie ist in vielerlei Hinsicht hier und doch ist sie von Natur aus nicht hier, immer um die nächste Ecke herum. Die Zukunft ist per Definition gleichzeitig präsent und abwesend. Das ist die Essenz von etwas Seltsamem, von etwas, über das wir nachdenken können, selbst wenn es unseren Gedanken widerspricht.

    Auch Science-Fiction ist seltsam. Sie ermöglicht es uns, Ideen zu entwerfen und hervorzubringen, die unmöglich erscheinen, Objekte zu schaffen, die nicht existieren, und sich in Fantasien zu verlieren, die vielleicht nie Realität werden. Weil sie die Zukunft aus der Perspektive der Gegenwart imaginiert und die Gegenwart durch das Prisma der Zukunft reflektiert, ist die Science-Fiction eine “seltsame Schleife”, die verzerrte Bilder, halbe Wünsche und unbequeme Wahrheiten hervorbringen kann. Gleichzeitig kann sie dazu beitragen, diese Zukunft oder Teile davon zu schaffen, indem sie die Gegenwart beeinflusst, aber seltsamerweise auf unvorhersehbare Weise.

    Um es greifbarer auszudrücken, stelle dir vor, du wärst Jules Verne und wärst ins 21. Jahrhundert versetzt worden und würdest einem U-Boot gegenüberstehen. Jemand hat scheinbar in deinen Geist gegriffen und ein Objekt deiner Vorstellungskraft extrahiert. Als Science-Fiction-Autor hat sich Verne Dinge vorgestellt, die nicht existierten, und obwohl er unsicher war, ob sie real werden würden, trug er mit seinen Ideen zu ihrer Verwirklichung bei.

    Das ist eine wahnsinnige Macht, oder? Das Schöne daran ist, dass wir alle diese Macht besitzen. Diese Fähigkeit ist die Vorstellungskraft selbst, die sich auf die Zukunft richtet. Ohne Vorstellungskraft wären wir in einer komplexen Welt gelähmt. Sie ermöglicht es uns, zu hoffen, zu wünschen, uns Dinge anders vorzustellen, als sie sind. Wir nutzen die Vorstellungskraft häufig, um ein Bild von uns selbst in den kommenden Jahren zu bekommen. Daraus kann aber auch eine beunruhigende Seltsamkeit entstehen, die man begrüßen und erforschen kann. Das ist im Wesentlichen das, was die Science-Fiction zu tun versucht: diesen verdrehten Raum zu ergreifen und zu versuchen, ihn zu erkunden, sich daran zu gewöhnen.

    Der Blick bei Nacht auf eine Straße und umliegende Gebäude. Alles ist in bläulichen und Romanen Farben ausgeleuchtet, die Szene wirkt futuristisch.

    Foto von CHUTTERSNAP auf Unsplash

    Doch mit dieser Macht kommt Verantwortung. Die Hegemonie kultureller Normen steht der Seltsamkeit inhärent entgegen. Hegemonie ist geschickt und findet Wege, das Seltsame abzusichern und es zu zähmen, es in akzeptierten Gesten, vertrauten Ästhetiken und “normalen” Ansätzen neu zu verpacken, es in eine Art “seltsamen Chic” zu verwandeln. Beim Schaffen sicherer Wege, “seltsam” zu sein, hat die Hegemonie einen wichtigen Verbündeten: jeden von uns und unsere Abneigung gegen die Unannehmlichkeiten des Seltsamen. Unsere Instinkte neigen dazu, sich vor diesem Unbehagen zu scheuen. Sicher, wir mögen es uns diesem ab und zu einmal anzunähern, um den Nervenkitzel des “sicheren Unsicheren” zu spüren, den Rausch, die Regeln zu brechen, ohne sie wirklich umzuschreiben, aber dann ziehen wir uns in die Begrenzungen des Etablierten, des Verständlichen, des Normalen zurück. Denn das Normale ist offensichtlich und erscheint zeitlos, es ist ein besonders mächtiges Werkzeug für die Hegemonie. Indem es so erscheint, als wäre es die Voreinstellung, ist es der Schlüssel zur effizienten Kontrolle.

    Unsere Instinkte spielen also in die Hegemonie hinein und ermöglichen es ihr, das Unkonventionelle zu neutralisieren, ohne dass wir es realisieren. Diejenigen, die danach streben, neue Möglichkeiten zu imaginieren, können leicht in die Falle tappen. Das zeigt sich in Science-Fiction-Franchises wie Star Trek, wo trotz der Vorstellung einer Zukunft mit fortschrittlicher Technologie und Erforschung viele Annahmen und soziale Codes der Gegenwart repliziert werden. Zum Beispiel wird die militärische Aristokratie der Föderation selten hinterfragt, die koloniale Natur von Starfleets “Wissenschaftsmission” wird selten gründlich untersucht. Die Schöpfer importierten unbeabsichtigt ihre bestehenden Überzeugungen, indem sie vor dem wirklich Seltsamen zurückschreckten. Andere Beispiele sind Star Wars und sogar die Werke renommierter Science-Fiction-Autoren wie Heinlein und Asimov. Trotz des Wunsches, die Zukunft neu zu denken, verstärkt ihre Schreibweise oft bestehende Machtstrukturen und vermeidet das wirklich Radikale und Seltsame.

    Indem es sich als innovativ und kühn vermarktet, aber die meisten Machtstrukturen beibehält, besänftigt diese sichere, “suburbane” Art von Science-Fiction sowohl konservative als auch Mainstream-Leser, die nach einer seltsameren Zukunft suchen, ohne sich mit dem Unangenehmen auseinandersetzen zu müssen. Letztendlich ist es ein privilegierter Raum, in dem bestimmte Themen verwendet werden, um als kühn, liberal und progressiv zu erscheinen, während sie einen tieferen Konservatismus verbergen. Auf diese Weise perpetuiert die suburbane Science-Fiction die bestehende intellektuelle und kulturelle Ordnung und wird zu einem Vehikel für die Normalisierung des Status quo, der zeitlos und unantastbar erscheint. Sie stimmt mit dem Ziel der Hegemonie überein, die benötigte Macht für die Kontrolle zu verringern, indem sie sich als “fait accompli” präsentiert, als eine Tatsache, die immer wahr sein wird.

    Eine Reihe bunter LED lichter in rosa und rot.

    Foto von bady abbas auf Unsplash

    Dies wird am Beispiel der Behandlung der Raumfahrterkundung durch das Genre veranschaulicht, das sich auf praktische Fragen der Förderung und Produktion konzentriert, anstatt das System herauszufordern. Dies ist wichtig, denn in letzter Zeit hat die Raumfahrterkundung erneut die Vorstellungskraft der Öffentlichkeit ergriffen. Die Science-Fiction spielt eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung dieser Vision, und leider dominiert derzeit suburbane Science-Fiction. Die Erforschung des Weltraums, getrieben von der Zusammenarbeit zwischen dem privaten Sektor und dem Staat, wirft wichtige Fragen zur Ressourcengewinnung und -kontrolle sowohl im Weltraum als auch auf der Erde auf. Doch indem die Science-Fiction historische Machtkonsolidierungen spiegelt, wiederholt sie die Gegenwart als schlechte Ausrede für die Zukunft und riskiert so, die Handlungen kapitalistischer Persönlichkeiten wie Elon Musk und Jeff Bezos zu bagatellisieren. Es gibt klare Parallelen zu früheren kolonialen Bemühungen, und der Einfluss der Science-Fiction auf die Gestaltung dieser Erzählung verwischt die Grenzen zwischen Realität und Fiktion in einer Weise, die potenziell katastrophale Konsequenzen für unsere Zukunft haben kann.

    Wenn unter dem Deckmantel von Wagemut, Neugier und glänzenden Raumschiffen die kapitalistische Ordnung in den Weltraum exportiert wird, wird die Science-Fiction mitschuldig an dem Schmerz und Leid, das darauf folgt, weil sie als kulturelle Sprache verwendet wurde, mit der eine solche Ordnung vorgestellt und schließlich etabliert wird. Es gibt jedoch Hoffnung in fantastischer, seltsamer Science-Fiction, die Normen in Frage stellt und eine andere Zukunft envisioniert (wie “A Psalm for the Wild-built” von Becky Chambers, “The Dispossessed” von Ursula K. Le Guin und die “Three Californias”-Reihe von Kim Stanley Robinson, um nur einige Beispiele zu nennen). Es hängt von der Fähigkeit ab, frei zu imaginieren und die Regeln, die die Gegenwart regieren, wirklich neu zu schreiben. Nicht alle von uns mögen veröffentlichte Autoren sein, aber wir alle haben diese Fähigkeit, wir können alle dazu beitragen, bessere Erzählungen zu schaffen, die sich von den Einschränkungen der Gegenwart lösen. Wir können alle die Science-Fiction als Werkzeug nutzen, um frische und verbesserte Zukunftsvisionen zu imaginieren. Gemeinsam können wir kollektiv eine bessere Welt jenseits der Beschränkungen von heute envisionieren.

  • Federated messaging

    Foto von D koi auf Unsplash

    Federated messaging

    In unserer Serie über eine tiefere Auseinandersetzung mit den Tools, die wir bei Konnektiv verwenden, werfen wir heute einen genaueren Blick auf unser Chat-System Matrix / Element. Als wir Konnektiv gründeten, benötigten wir ein Messaging-Tool, um innerhalb des Teams zu kommunizieren. Da alle Gründer*innen sich für private, sichere und Open-Source-Protokolle einsetzten, entschieden wir uns für Signal, das wir alle zuvor sowohl für private als auch geschäftliche Kommunikation verwendet hatten. Wir nutzten verschiedene Gruppen für unterschiedliche Zwecke, und mit der Verwendung von Signal für den Desktop war es eine sehr geeignete Lösung.

    Signal hatte jedoch einen erheblichen Nachteil, als Konnektiv seine ersten Mitarbeitenden hatte: Die Konten waren an eine Telefonnummer gebunden. Und keiner von uns entschied sich dafür, ein Diensthandy zu haben, weil wir uns weder einem zweiten Mobilgerät widmen wollten noch dazu gezwungen sein wollten, Dual-SIM-Geräte zu verwenden. Es war keine wirklich praktikable Option, Signal in dieser Konstellation weiter zu verwenden, da private und geschäftliche Kommunikation miteinander vermischt würden und Mitarbeiter auch an ihren freien Tagen oder Zeiten Benachrichtigungen für neue Nachrichten in ihren Konnektiv-Signalgruppen erhalten würden, was wir vermeiden wollten.

    Unsere Technikabteilung begann dann mit der Evaluierung verschiedener Lösungen. Zu diesem Zeitpunkt bestand unser interner Kommunikations- / Projektworkflow-Stack bereits aus Nextcloud, GitLab, OpenProject und BigBlueButton. Wir benötigten etwas, das die Messaging-Funktionalität von Signal ersetzen würde, ohne zu viel Funktionalität unserer anderen Systeme zu duplizieren. Die beiden finalen Kandidaten in unserer Suche waren Mattermost und Matrix/Element. Während Mattermost im Wesentlichen eine Open-Source-Version von Slack ist, war Element das Messaging-System, nach dem wir suchten.

    Element verwendet die Matrix-API, eine Reihe von offenen APIs für dezentrale Kommunikation. Wir richteten unseren eigenen Matrix-Heimserver und einen Element-Server unter element.konnektiv.de ein. Auf diese Weise konnten Element-Benutzernamen dem gleichen Muster wie unsere E-Mail-Adressen folgen, was es leicht machte, jeden bei Konnektiv über Element zu kontaktieren, wenn man ihre E-Mail-Adresse kannte. user@konnektiv.de wird einfach zu @user:konnektiv.de auf Element.

    Ein Merkmal, das bei diesem Messaging-System hervorsticht, ist die Dezentralisierung, was bedeutet, dass es keine einzelne Entität gibt, die das Netzwerk kontrolliert, sondern dass es sich vielmehr um eine Föderation von Servern handelt, die das Messaging-Netzwerk ausmachen und über die offene Matrix-API miteinander kommunizieren. Föderation ist kein völlig neues Konzept. In den frühen 1980er Jahren wurden Standards entwickelt, um E-Mails zwischen verschiedenen Computernetzwerken zu versenden. In den 1970er Jahren wurden E-Mails hauptsächlich innerhalb desselben Netzwerks verwendet, ohne dass sie Personen in anderen Netzwerken erreichen konnten. Das war die Zeit, als E-Mail föderiert wurde, und wir verwenden es immer noch als Standardkommunikationsmittel zwischen Unternehmen. Diese Möglichkeit der Föderation war wahrscheinlich eines der Schlüsselelemente für den Erfolg von E-Mails bis heute (obwohl es die Big Players in den letzten Jahren immer schwieriger machen, dass kleine Mailserver im Spiel bleiben, was de facto zu einem Oligopol führt).

    Zwei Vögel die miteinander kommunizieren

    Foto von Karina Vorozheeva auf Unsplash

    In den letzten 20 Jahren haben wir uns jedoch an zentral gesteuerte Kommunikationsplattformen wie WhatsApp, Skype, Facebook, Instagram, Twitter usw. gewöhnt, bei denen ein Unternehmen die vollständige Kontrolle über das gesamte Netzwerk hat und entscheiden kann, wer unter welchen Bedingungen Zugang zum Netzwerk erhält, welche Inhalte moderiert, geduldet, gelöscht oder nicht gelöscht werden. Natürlich unterliegt auch dies einer staatlichen Regulierung, aber ob diese tatsächlich befolgt wird, ist eine ganz andere Geschichte. Was passieren kann, wenn diese Art von Macht in den Händen eines Unternehmens liegt, wurde der Welt im letzten Jahr vor Augen geführt, als Elon Musk Twitter kaufte und es im Grunde innerhalb eines Jahres in ein Netzwerk verwandelte, das Rassismus und Homophobie propagiert.

    Aus diesem Grund haben wir von Konnektiv, neben Hunderten von anderen Organisationen, dieses Jahr beschlossen, unsere Aktivitäten auf Twitter Stück für Stück einzustellen und ein Mastodon-Konto eingerichtet. Sie sind herzlich eingeladen, uns auf https://social.tchncs.de/@knnktv zu folgen.

    Wie bei Matrix handelt es sich bei Mastodon um ein föderiertes Netzwerk von Servern, was bedeutet, dass es keine zentrale Kontrolle darüber gibt. Um genau zu sein, ist Mastodon nur ein Dienst innerhalb eines ganzen Netzwerks von föderierten Diensten, dem Fediverse. So wie jeder seinen eigenen Matrix-Home-Server einrichten kann, kann man auch seinen eigenen Mastodon-Server mit einem eigenen Verhaltenskodex und eigenen Moderationsregeln einrichten.

    Kürzlich hat sogar Meta beschlossen, das ActivityPub-Protokoll zu unterstützen, und Threads für die Anbindung an das Fediverse geöffnet, wobei andere Akteure wie Flipboard diesem Schritt erst diese Woche gefolgt sind. Vor allem die Anbindung von Threads an das Fediverse sorgt für Diskussionen unter den Mastodon-Server-Administratoren und -Nutzern darüber, ob sie Threads vollständig sperren sollen, weil Meta es versäumt hat, auf Hassreden angemessen zu reagieren.
    Es wird spannend zu beobachten sein, wohin all diese Bewegung in der Welt der sozialen Medien im kommenden Jahr führen wird.

  • Die Macht der Spekulation in einer Welt von Vorhersagen

    Image by Pete Linforth from Pixabay

    Die Macht der Spekulation in einer Welt von Vorhersagen

    Eine kurze Geschichte der prädiktiven Mathematik

    Seit Tausenden von Jahren versuchen Menschen, die Zukunft vorauszusagen, indem sie in die Sterne blicken, Knochenwürfel werfen oder die Linien der Handfläche lesen. Trotz Spekulationen und Wetten auf die Zukunft im Laufe der Jahrhunderte waren die meisten Menschen größtenteils nicht in der Lage, sie zu berechnen. Doch im Jahr 1654 veränderte eine Serie von Briefen zwischen Blaise Pascal und Pierre de Fermat die Welt, indem sie die Möglichkeit eröffneten, die Zukunft zu prognostizieren, indem sie Wahrscheinlichkeiten mathematisch bewerteten. Heutzutage sind wir daran gewöhnt, unser Leben zu gestalten, indem wir Risiken kalkulieren: Wie wahrscheinlich ist es, einen guten Job zu finden, wenn ich ein bestimmtes Fach an der Universität studiere? Wie viel sollte ich in eine Rentenversicherung investieren, um im Alter ein komfortables Leben führen zu können? Vor Blaise und Pascal war dies eine fremde Denkweise. Umso mehr, da wir heute unsere Welt formen, indem wir Algorithmen diese Risiken für uns berechnen lassen.

    In ihrem Briefwechsel schufen Blaise und Pascal die mathematischen Grundlagen, die für die prädiktive Analytik benötigt werden. Prädiktive Analytik beschreibt die Praxis, “Informationen aus vorhandenen Datensätzen zu extrahieren, um Muster zu erkennen und zukünftige Ergebnisse und Trends vorherzusagen”. Eine Reihe von statistischen Techniken werden heute verwendet, um prädiktive Analytik durchzuführen, darunter Data Mining, Modellierung und maschinelles Lernen, die alle dazu dienen, historische Informationen zu analysieren, bzw. Daten aus der Vergangenheit zu verwenden, um Vorhersagen über das Unbekannte und Kommende zu treffen. Prädiktive Analytik kann bewerten, was in der Zukunft wahrscheinlich geschehen wird, basierend auf den Eingabedaten, kann jedoch nicht vorhersagen, was tatsächlich passieren wird, obwohl wir oft den Fehler machen, genau das zu glauben.

    Heutzutage leben wir in einer von Daten und Algorithmen gesteuerten Welt. Jeden Tag lassen wir Algorithmen unsere Entscheidungen darüber beeinflussen, welchen Film wir sehen oder in welche Aktien wir investieren könnten. Algorithmen sagen voraus, auf welche Werbeanzeigen wir am ehesten reagieren werden, und welche Entscheidungen selbstfahrende Autos treffen sollten. Unsere Daten werden mit oder ohne Zustimmung gesammelt und von Datenwissenschaftlern genutzt, um “die Zukunft zu erraten”. Dies ist grundsätzlich keine negative Entwicklung. Viele soziale Anwendungsfälle werden entwickelt, wie beispielsweise die prädiktiven Modelle, die am John Jay College of Criminal Justice in New York City entwickelt wurden, um zu identifizieren, welche Studierenden Gefahr laufen, das College abzubrechen, und sie bis zum Abschluss zu unterstützen. In unserer zunehmend komplexen und informationsreichen Welt können Algorithmen wichtige Werkzeuge sein, um zu verstehen, was in unserer Umgebung wichtig ist.

    Warum ist es keine gute Idee, sich auf die Vorhersage großer Daten zu verlassen?

    Allerdings kann KI-basierte Entscheidungsfindung auch bestehende Vorurteile fortsetzen und dazu beitragen, die Überwachungswirtschaft weiter zu verfestigen. Zahlreiche Fälle dokumentieren falsch gelaufene prädiktive Polizeiarbeit oder rassistische Gerichtsurteile aufgrund voreingenommener Daten. Diese Beispiele (von denen viele wahrscheinlich nicht dokumentiert wurden) zeigen die Gefahren auf, die mit der Verwendung vereinfachter Datenmodelle in sensiblen sozialen Umgebungen einhergehen. Daten-Determinismus beeinflusst unser Leben nicht nur in Extremsituationen wie der Strafverfolgung, sondern auch im täglichen Leben – durch sexistische, rassistische, altersbezogene und behindertenfeindliche Suchergebnisse, Einstellungspraktiken und Gestaltung und Bereitstellung von Gesundheitsdiensten. Da diese Systeme so normalisiert sind, neigen wir dazu, ihre Auswirkungen herunterzuspielen, was es Unternehmen aus dem Silicon Valley ermöglicht, ihre Richtlinien als Regeln für die Gesellschaft und Individuen durchzusetzen. Zum Beispiel erklärt AirBnB, dass jede Buchung “auf Risiko bewertet wird, bevor sie bestätigt wird. Wir verwenden prädiktive Analytik und maschinelles Lernen, um sofort Hunderte von Signalen zu bewerten, die uns dabei helfen, verdächtige Aktivitäten zu erkennen und zu untersuchen, bevor sie passieren.” Da diese Richtlinie dem Unternehmen effektiv erlaubt, das Web nach Informationen zu durchsuchen, wurden mehrere Nutzer als “verbunden” mit gefälschten Profilen in sozialen Netzwerken oder mit Schlüsselwörtern, Bildern oder Videos markiert, die auf eine Beteiligung an Drogen, Alkohol oder Sexarbeit hindeuteten. Dazu gehörten auch mehrere Sexarbeiterinnen, deren Konten gelöscht wurden, obwohl sie AirBnB ausschließlich für private, touristische Zwecke genutzt hatten. Natürlich hätte jedes der großen Technologieplattformen als Beispiel für diese Art der Verwendung prädiktiver Analytik dienen können – es ist keineswegs spezifisch für AirBnB.

    Ein dunkler Raum mit Lichtinstallation. Schatten von einigen Menschen sind zu erkennen.

    Foto von Robynne Hu auf Unsplash

    Die auf Daten basierenden Realitäten und Zukünfte, die wir schaffen, gründen auf den Daten der Vergangenheit. Um uns von den rückwärtsgerichteten, deterministischen Strukturen zu lösen, die wir heute programmieren, müssen wir diese Daten ergänzen. In ihrem TedxCambridge-Vortrag erklärt die Ethnografin und Datenwissenschaftlerin Tricia Wang, dass uns mehr Daten nicht helfen, “bessere Entscheidungen zu treffen”, wenn wir wichtige, kontextualisierende Perspektiven außer Acht lassen. Stattdessen plädiert sie für die Humanisierung von Daten – das, was sie “dick data” nennt – große Datenmengen, die mit nicht quantifizierbaren, qualitativen Daten angereichert wurden, die aus einer ethnografischen Perspektive gesammelt wurden und “Tiefe der Bedeutung” liefern. Wang zieht diese Schlussfolgerung aus ihren eigenen Erfahrungen in China im Jahr 2009, als sie den Siegeszug des Smartphones über das herkömmliche Mobiltelefon vorhersagte. Zu dieser Zeit war ihr Kunde Nokia nicht bereit, den Geschichten zuzuhören, die sie hinter den Daten gesammelt hatte, sondern klammerte sich an die Überzeugung, dass die Menschen nicht bereit wären, so viel ihres Einkommens in ein so fragiles Gerät zu investieren.

    Umfragen und andere Formen der Vorhersage, wie Prognosen, scheitern, wenn Daten gelesen werden, ohne auf die nuancierteren Verschiebungen in politischen Allianzen und der Mobilisierung von Wählern zu achten, beispielsweise bei der Wahl von Präsident Trump und dem Brexit-Votum in Großbritannien. Um Daten effektiv nutzen zu können, müssen wir lernen zu sehen, was uns die Daten nicht zeigen. Wie Wang warnt: “Es gibt kein größeres Risiko, als blind für das Unbekannte zu sein”. 

    Die Macht der Spekulation und der politischen Vorstellungskraft im Blick auf das Unbekannte

    Indem wir uns von den Daten entfernen und die Möglichkeiten außerhalb des Messbaren erkunden, können wir beginnen, zu erahnen, was derzeit unbekannt ist. In seinem Vortrag ‘Die politische Tragödie des datengetriebenen Determinismus’ beschreibt Mushon Zer-Aviv den Prozess der Entwertung durch die Integration digitaler Dienste in unseren Alltag. Ist es wichtig, ob wir einfache Kopfrechenübungen vergessen, Telefonnummern auswendig lernen oder eine Karte lesen können? Vielleicht, aber es ist nicht akzeptabel, dass wir unsere Fähigkeit verlieren, sich unterschiedliche Zukünfte vorzustellen. Zer-Aviv betont die Bedeutung der Aufrechterhaltung und Schulung unserer “Fähigkeit zur politischen Vorstellungskraft”, und erinnert uns daran, dass das 20. Jahrhundert gezeigt hat, wie die Utopie einer Person für jemand anderen zum Albtraum werden kann. Deshalb müssen wir die Zukunft nicht als linear und deterministisch, sondern als vielfältig betrachten. Und weil es uns oft leichter fällt, nicht wünschenswerte Zukünfte in Form von Dystopien zu formulieren, benötigen wir Werkzeuge, um uns bei der Entwicklung erstrebenswerter Zukünfte zu unterstützen.

    Zwei Hochhäuser im ökobrutalistischen Look aus der Vogelperspektive.

    Foto von Nazarizal Mohammad auf Unsplash

    Spekulation ist ein solches Werkzeug. Es ist der Prozess des “Bildens einer Theorie oder Vermutung ohne feste Beweise” oder “die Tätigkeit, mögliche Antworten auf eine Frage zu erraten, ohne genug Informationen zu haben, um sicher zu sein”. In der heutigen datengetriebenen Gesellschaft kann Spekulation befreiend sein. Wie Anthony Dunne und Fiona Raby in ihrem Buch ‘Spekulatives Alles’ argumentieren: Wir glauben, dass durch vermehrte Spekulation auf allen Ebenen der Gesellschaft und durch die Erkundung alternativer Szenarien die Realität formbarer wird und obwohl die Zukunft nicht vorhergesagt werden kann, können wir dazu beitragen… Faktoren zu setzen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wünschenswertere Zukünfte eintreten… ebenso können Faktoren, die zu unerwünschten Zukünften führen könnten, frühzeitig erkannt und angegangen oder zumindest begrenzt werden. Profis aus verschiedenen Disziplinen wie Design, Geschäftsentwicklung, Gaming und politischer Philosophie können solche Ansätze bieten. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Methoden und Werkzeuge entwickelt, von denen einige in dieser Publikation vorgestellt werden, die uns einladen, zu spekulieren, zu imaginieren und zu schaffen, anstatt einfach zu rechnen, zu analysieren und zu bewerten.

    Im Jahr 1952, rund dreihundert Jahre nach dem Briefwechsel zwischen Blaise und Pascal, der es den Menschen ermöglichte, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, schuf Christopher Strachey das, was als das erste Stück digitaler Literaturkunst bezeichnet wurde, einen kombinatorischen Liebesbrief-Algorithmus für den Manchester Mark 1-Computer. Heute steht die generative KI ganz oben auf der Agenda für digitale Politikgestalter, Aktivisten und Theoretiker. Als Gesellschaft befassen wir uns mit Fragen wie: Welche Aufgaben sollte KI erlaubt sein auszuführen, wie unterscheiden wir zwischen Werken, die von KI und von Menschen geschaffen wurden, und wie viel Entscheidungsgewalt sollte KI über unser Leben haben. Gleichzeitig, während wir unsere Maschinen lehren zu erschaffen, sollten wir unsere eigene Kreativität und Handlungsfähigkeit bewahren, um zu erforschen, was durch sie erreicht werden kann, anstatt uns auf sie zu verlassen, um unsere Zukunft gemäß unserer Vergangenheit vorherzusagen.