Author: Emi Schuri

  • Digitale Kultur und internationale Projekte

    Still von Keiken, „Dream Time Life Simulation auf keiken.cloudnews

    Digitale Kultur und internationale Projekte

    In „Einblicke & Ausblicke“ präsentieren wir spannende Projekte, Kunst, Events u.v.m. rund um digitale Kultur und internationale Zusammenarbeit. In unserem Kulturimpuls präsentieren wir spannende Projekte, Kunst, Events u.v.m. rund um digitale Kultur und internationale Zusammenarbeit. Dieses Mal ist neben tollen künstlerischen und sozialen Projekten auch ein Podcast-Tipp dabei!

    Purple Code

    Kaum ein Podcast passt besser in diese Ausgabe von Konnektiv Impuls als “Purple Code”, ein Podcast, der sich intensiv mit intersektional feministischen Perspektiven in Bezug auf die digitale Gesellschaft und technologischen Fortschritt beschäftigt. Die drei Hosts Sana, Bianca und Lena führen Gespräche mit einer vielfältigen Bandbreite an Gäst*innen, darunter Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und alle Frauen*, die sich in digitalen Sphären engagieren. Dabei teilen sie ihre persönlichen Erfahrungen und Standpunkte sowie aktuelle Entwicklungen in der digitalen Gesellschaft.

    Zwei Folgen wollen wir besonders weiterempfehlen:

    Dieses Jahr war auch Renata Ávila, die bereits in der vorherigen Ausgabe von Konnektiv_Impuls im Interview auftrat, bei Purple Code zu Gast. Renata ist Menschenrechtsanwältin und berichtet über ihre Arbeit mit der indigenen Bevölkerung in Lateinamerika. Ihr Input beleuchtet systematische Unterdrückung und verdeutlicht, warum eine Analyse dieser Problematik eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung und Anwendung digitaler Technologien spielt.

    Wer an diesem spannenden Diskurs interessiert ist, findet die entsprechende Folge hier.

    In der ersten Folge dieses Jahres teilt Nakeema Stefflbauer ihre Erfahrungen in der Tech-Branche in New York, Toronto und Boston. In Berlin gründete sie schließlich die NGO “FrauenLoop”, die Frauen* mit verschiedensten Hintergründen die Möglichkeit gibt, Programmieren zu lernen und sich damit eine nachhaltige Karriere im Tech-Bereich aufzubauen. Nakeema erläutert hier, warum Diversität und die Einbindung von marginalisierten Personen in der Tech-Branche besonders wichtig sind. 

    photo of a microphone in front of a orange and blue backround

    Foto von Joshua Hoehne auf Unsplash

    WOUGNET

    Das Women of Uganda Network (WOUGNET) ist eine nicht staatliche Organisation in Uganda, die Frauen und Frauenorganisationen dabei unterstützt, Informations- und Kommunikationstechnologien (ICTs) zu nutzen. Die Organisation setzt sich seit 2000 für Geschlechtergleichheit und nachhaltige Entwicklung ein, indem sie zur Entwicklung von inklusiven und gerechten Gemeinden beitragen möchte. Neben der Gemeindearbeit führt WOUGNET Forschung zu Internet- und ICT-Politiken durch und fördert den Zugang zu online Informationen für Frauen sowie deren und die Sicherheit von Frauen online. Die Organisation ist Mitglied in verschiedenen Netzwerken und nutzt verschiedene Kommunikationsmittel, um ihre Botschaft zu verbreiten. Sie bietet auch Schulungen und Workshops an, um die Beteiligung von Frauen an Technologie und Internet Governance zu stärken.

    Feminist Data Set

    Die Probleme, die mit Big Data, der Verwendung in größeren Kontexten und der Entwicklung von künstlichen Intelligenz generell einhergehen, sind mittlerweile allgemein bekannt. Das mehrjährige Kunstprojekt „Feminist Data Set“ will die KI-Landschaft aus einer feministischen Perspektive neu denken und gestalten. Zu diesem Zweck nimmt die Künstlerin Caroline Sinders jeden Aspekt des KI-Prozesses, von der Datenerhebung bis zum Algorithmusdesign, unter die Lupe, und prüft ihn auf seine Übereinstimmung mit den Prinzipien der Intersektionalität und Inklusivität. Die Datenerhebung findet in Workshops und Foren statt, um im Gegensatz zu herkömmlichen Datenerhebungen „langsame“ und „konsensuelle Daten“ für den weiteren Prozess zu nutzen. Das Projekt soll die Gesellschaft mit einbeziehen und sich als Protest gegen die klassische, von Technologiegiganten getriebene Entwicklung solcher Technologien stellen. Eine spannende Publikation zum Projekt gibt es hier.

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    Foto von Pawel Czerwinski auf Unsplash

    Keiken Collective

    Statt bloß passive Kunst zu präsentieren, lädt das Keiken Kollektiv dazu ein, in fesselnde, spekulative Welten einzutauchen. Hierbei wird die eigene Wahrnehmung und Körperlichkeit infrage gestellt, alternative Zukünfte werden erforscht und erlebt. Der Name des 2015 von Tanya Cruz, Hana Omori und Isabel Ramos gegründeten Kollektivs, “Keiken”, was auf Japanisch “Erfahrung” bedeutet, ist treffend gewählt. Die Künstlerinnen mit vielfältigen diasporischen Hintergründen nutzen verschiedenste Medien wie Film, Gaming, Installationen und erweiterte Realität, um zu erkunden, wie gesellschaftliche Einflüsse unsere Wahrnehmung und Emotionen prägen. Vergangene Projekte wie “Augmented Empathy” und “Morphogenic Angels” setzen sich mit Fragen der Identität in digitalen Räumen auseinander und entführen die Besucher*innen in faszinierende alternative Welten, die zugleich zum Nachdenken anregen. Wenn gerade keine Ausstellung in der Nähe ist, bietet die Folge “Into the Metaverse” des The Culture & Technology Podcasts eine Gelegenheit, mehr über die Hintergründe ihrer multidimensionalen Kunst zu erfahren.

    Still von Keiken, „Dream Time Life Simulation” auf keiken.cloudnews

  • Deutschlands feministische Digitalpolitik und der Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen

    Foto von Google DeepMind auf Unsplash

    Mit der Feminismusflagge auf den Zukunftsgipfel oder Stillstand der Gipfelstürmer?

    Es ist ein knappes halbes Jahr vergangen, seitdem Svenja Schulze den Aufbruch in eine feministische Entwicklungspolitik verkündet und die dazugehörige Strategie veröffentlicht hat. Ein feministischer Ansatz in der internationalen Digitalpolitik wird dringend gebraucht. In vielen Ländern nehmen die Beschränkungen digitaler Freiheiten und die digitale Gewalt gegenüber Frauen und feministischen Organisationen zu (UN Women). Die jüngsten Entwicklungen in der digitalen Medienlandschaft scheinen geradezu aus einem Playbook für toxische Maskulinität kopiert worden zu sein. Von der Bildsprache bis zu den Machtstrukturen: Twitter fiel einem großen, schwarzen X zum Opfer, während Mark Zuckerberg und Elon Musk öffentlich ihren Käfigkampf planen. Ein feministisches Internet – davon scheinen wir heute weiter entfernt als jemals zuvor in der Geschichte der Digitalisierung. 

    Auch wenn der Einfluss der digitalen internationalen Kooperation begrenzt ist, könnte sie zumindest einen Beitrag leisten, Raum für kritischen Austausch zu bestehenden Machtstrukturen und Raum für neue Entwicklungen zu schaffen. Sechs Monate sind zu kurz, um grundlegende Machtstrukturen zu verändern und viele der systemischen Ansprüche der Strategie umzusetzen. Wir stellen die Frage, ob die Strategie zur feministischen Entwicklungspolitik den entsprechenden Rahmen bietet, der digitalen Entwicklungspolitik einen feministischen Fokus zu geben und wie eine Umsetzung aussehen könnte. 

    Nachhaltige digitale Transformationspolitik geht nicht mit Schmalspur-Feminismus

    In der im März 2023 veröffentlichten Strategie zur feministischen Entwicklungspolitik heißt es in Bezug auf Digitalisierung: 

    Das BMZ setzt sich für eine geschlechtergerechte digitale Transformation sowie die Schließung der digitalen Geschlechterkluft ein, um die digitale Teilhabe aller Menschen sicherzustellen. Hierzu werden Frauen und Mädchen digitale Angebote und Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Unternehmertum und Gesundheit zugänglich gemacht.“

    Dieser Anspruch greift zu kurz. Eine geschlechtergerechte digitale Transformation sollte allen Geschlechtern die gleichberechtigte, aktive und gestalterische Teilhabe gewährleisten. Des Weiteren sollte sie gleichberechtigten Zugang zu Macht- und Wirtschaftsstrukturen ermöglichen, hin zu der Möglichkeit, digitale Medien, Dienstleistungen, Angebote und Produkte zu entwickeln bzw. sie ihren Bedürfnissen anzupassen. 

    Die Feminist Tech Principles des feminstischen Zukunftslabors Superrr bringen es auf den Punkt: Digitalisierung sollte „darauf abzielen, Grundrechte zu wahren und soziale Ungerechtigkeiten abzubauen“. Denn die “Art und Weise der Digitalisierung bestimmt […] maßgeblich mit über soziale Teilhabe, Zugang zu Wissen und Bildung sowie Gerechtigkeit“. Dementsprechend sollte sich die Entwicklungszusammenarbeit dafür einsetzen, dass die Art und Weise, wie Digitalisierung Einfluss auf unser Leben nimmt, gleichberechtigt [mit]gestaltet werden kann. Eine fundamentale Voraussetzung für eine feministische EZ- und Digitalpolitik ist es somit zu verstehen, dass Feminismus auf einer Ebene jenseits des Fokus auf spezifische Zielgruppen ansetzt. Denn Feminismus ist eine systemische Ausrichtung, welche sich durch alle Handlungsstrukturen Deutschlands internationaler Politik ziehen muss, um zu einer konsequenten Umsetzung zu gelangen. Die Strategie zur feministischen Politik des BMZ bietet hierfür noch keinen konkreten Rahmen, was die Digitalisierung angeht, während die Digitalisierungsstrategie des BMZ stark tech-positiv geprägt ist. 

    Was wir in der Praxis beobachten 

    Der Strategie des BMZ liegt sehr wohl ein menschenrechtsbasierter und auch intersektionaler Ansatz zugrunde (p. 5, 8). Schaut man sich diese jedoch genauer an, stellt sich die Frage, wie die Umsetzung einer Strategie in der Praxis aussehen soll, welche auf eine konventionelle Genderpolitik ausgerichtet ist. Es ist anzunehmen, dass dies auf strukturelle Gegebenheiten innerhalb des deutschen EZ-Systems zurückzuführen ist. Das BMZ, und somit die Arbeit der GIZ, sind im Rahmen der ODA an entsprechend gender-basierte Indikatoren gebunden und interne Strukturen sind seit Jahren entsprechend angelegt. Hieran wird die systemische Komplexität deutlich. Ein feministischer Ansatz befasst sich jedoch mit der Analyse von Machtverhältnissen in Gesellschaften und evaluiert, inwieweit geplante Vorhaben sich auf Machtverteilungsfragen auswirken. Zu seinen analytischen Kategorien gehören statt vereinfachter Identitätsgruppen vor allem Intersektionalitäten. Die Verwebungen sozialer Kategorien wie z.B. Einkommen, Geschlecht, Religion und Alter, in der proaktive und reaktive Machtdynamiken gleichermaßen Beachtung finden. 

    a globe standing on a table

    Foto von Kyle Glenn auf Unsplash

    Diese Nichtübereinstimmung von Strukturen und normativen Rahmen lassen sich nicht von heute auf morgen anpassen. Hierfür konkrete und allgemeingültige Umsetzungsvorgaben für neue Vorhaben zu gestalten ist eine komplexe Aufgabe. Um eine feministische Digitalpolitik in der Entwicklungszusammenarbeit konsequent zu gestalten und umzusetzen, ist eine Fokussierung auf Geschlechtergerechtigkeit und eine narrative Ausweitung auf marginalisierte Gruppen jedoch nicht ausreichend. Genauso wenig ist die Fokussierung auf Infrastruktur- und Tech Capacity Ausbau der BMZ Digitalstrategie eine Lösung, sofern oben ausdifferenzierte Machtstrukturen nicht strukturell mitgedacht werden. Diese engen Ausrichtungen laufen Gefahr, die Genderkomponente von anderen Machtstrukturen abzukoppeln, anstelle diese in den notwendigen Gesamtzusammenhang zu rücken.

    Rechte, Ressourcen und Repräsentanz

    Um Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und die Sicherheit aller Menschen in den Mittelpunkt der deutschen EZ zu stellen, muss die Multidimensionalität von Diskriminierung und die Komplexität von Machtstrukturen ganzheitlich behandelt werden. Natürlich können entwicklungspolitische Digitalvorhaben Mark Zuckerberg oder Elon Musk keine Konkurrenz machen, aber sie können einen Beitrag leisten um die Machtdynamiken entlang der drei im Fokus der EZ-Strategie stehenden Bereiche – der 3 R- Rechte, Ressourcen und Repräsentanz zu kalibrieren. Ansätze rund um offene Technologien, offene Innovationsprozesse und offene Zugangs- und Lizenzkonzepte können zu gleichberechtigten Strukturen beitragen. 

    Rechte: Selbstverständlich spielen Freiheitsrechte wie das Recht auf Sicherheit, Privatheit und Meinungsfreiheit eine Schlüsselrolle im Kontext eines feministischen Internets. Diese Rechte müssen auch durch die Schaffung entsprechender Policyrahmen auf nationalen Ebenen gefördert werden. Um Verbraucher*innen-Rechte gegenüber Technikherstellern und -Verkäufern zu gewährleisten spielen aber auch offene Hardware und das Recht auf Reparatur sowie Kompatibilität eine wichtige Rolle. Des Weiteren ist es im Sinne der Nachhaltigkeit wichtig, Narrative rund um Maintenance, Care und Repair gegenüber Narrativen von Innovation, Acceleration und Wachstum zu setzen.  

    Ressourcen: Der Zugang zu Wissen und digitalen Ressourcen kann zum Abbau von Machtasymmetrien beitragen. Hierbei spielen heutzutage vor allem Fragen rund um Datenautonomie eine entscheidende Rolle. Ebenso die Frage nach dem Zugang zu offenen Daten und dazu, wer wie in welchen Daten repräsentiert ist. Auch ethische Ansätze zum Private Public Data Sharing und der transparenten Anwendung von KI. Darüber hinaus spielt der Zugang zu Wissensressourcen, von offenen Bauplänen für Maschinen, über digitalisierte historische Archive, bis zu freien Lernmaterialien für den Schulunterricht und in diesem Kontext die Nutzung freier Lizenzen eine Schlüsselrolle zur feministischen, internationalen Digitalpolitik. 

    Repräsentanz: Weltweit machen uns lokale zivilgesellschaftliche Gruppen vor, wie kontext-getriebene und lokal verankerte Transformation aussehen kann, wie auf lokaler Ebene digitale und andere Innovationen entwickelt werden und unmittelbare Transformationsprozesse anstossen. Ein feministischer EZ-Ansatz wäre prädestiniert dafür eben diese sich wandelnde Akteurslandschaft aufzufangen und in einer EZ und angekoppelten Digitalpolitik zu reflektieren, welche diese Seite der digitalen Transformation als sich verschiebende Machtpositionen annimmt und entsprechende Konsequenzen für ihre Politikgestaltung daraus zieht. Die deutsche EZ kann Deutschland, seine eigene Zivilgesellschaft und andere Länder dabei unterstützen, an wichtigen politischen Prozessen teilzuhaben und nicht nur der Wirtschaft Zugang zu politischen Entscheidungsträgern im Digitalbereich zu überlassen. 

    Wie eingangs erwähnt, kann Deutschland in der internationalen Kooperationslandschaft mit ihrer neuen Ausrichtung sehr wohl wegweisende Impulse setzen, um bestehende und sich vertiefende Machtstrukturen gezielt, artikuliert und ganzheitlich anzugehen. Ob die deutsche EZ es schaffen wird, ihre Agenda hierzu über den schmalspurigen Gender Fokus hinaus zu gestalten, wird sich zeigen. Ein entscheidender Moment steht jedoch bereits vor der Tür. 

    atmospheric photograph of the German "Reichstagskuppel"

    Foto von Christian Lue auf Unsplash

    Feministische Digitalpolitik auf dem Zukunftsgipfel? Was Deutschland sich dafür auf die Flagge schreiben muss

    Knapp 20 Jahre nach dem Weltgipfel der Informationsgesellschaft in Tunis findet im September 2024 der UN Summit of the Future statt, mit dem Ziel, die globale Governance zum Wohle der heutigen und künftigen Generationen zu stärken. Eine sozial-ökologische Gestaltung der Digitalen Transformation spielt eine entscheidende Rolle. Alle Mitgliedstaaten, so auch Deutschland, haben hier die Gelegenheit sich entsprechend einzubringen. Dies geschieht gegenwärtig beispielsweise im Rahmen von Multi-Stakeholder Aktivitäten zur Erarbeitung eines Global Digital Compacts, welcher auf dem Summit vorgestellt werden soll. Hierzu können feministische Ansätze einen wesentlichen Beitrag leisten und somit könnte die Neuausrichtung der deutschen Bundesregierung einen entscheidenden Beitrag in der globalen Arena leisten, nach Dekaden von leeren Begrifflichkeiten konkrete Aktionsrahmen aufzuzeigen und diesen zur Umsetzung zu verhelfen. 

    Deutschland kann dieses Momentum nutzen, um die historische Polarisierung zwischen Kultur- versus Infrastruktur Fokus zu überkommen. Eine konsequente Ausrichtung der globalen Agenda anhand von Machtkomplexen würde einen eingeschränkten Blickwinkel primär auf Infrastrukturausbau oder die Förderung spezifischer Gesellschaftsgruppen erst gar nicht zulassen. Ein entscheidender Schritt hierzu ist es, die Strategie zur Feministischen EZ und die Digitale Agenda zusammenzudenken und operational zusammenzubringen. Hierbei muss Transparenz darüber geschaffen werden, wie ein konsequent feministischer Ansatz sich auf die Programmgestaltung im Bereich der Digitalen Transformation auswirkt. Immerhin ist die deutsche EZ was ihre Arbeit, und somit Erfahrung, im Bereich der digitalen Transformation angeht vielen ihrer Europäischen Kolleg*innen weit voraus. So war die deutsche EZ lang vor ihrer neuen Digitalen Agenda im gesamten Entwicklungsprozess, von ganz frühen Entwicklungen in der Medienentwicklungszusammenarbeit, frühen ICT Development Dynamiken, bis heute stets sehr involviert. Dies sollte einen Lernprozess mit sich gebracht haben, welchen es gilt aufzuarbeiten und eine Vorreiterrolle einzunehmen, was Schritte weg von extrem techno-zentrischen Entwicklungsagenden angeht, damit auch andere Mitgliedsstaaten nahtlos an bereits gemachte Erfahrungen anknüpfen können. Hierzu müssen gemachte Erfahrungen, inklusive Failures und der darauf basierende Entwicklungsprozess in der Agendasetzung der deutschen EZ aktiv in unterschiedlichen Foren, wie beispielsweise dem Digital Global Compact, eingebracht werden, durch klare Positionierung und eine leitende Rolle. Wie wir bereits in unserer letzten Konnektiv_Impuls ausdifferenziert haben, ist digitale Innovation divers und findet zu großen Teilen in unseren Partnerländern statt, sofern man ein kontext-getriebenes Innovationsverständnis verankert. Die deutsche EZ fördert seit Jahren lokale Innovationsnetzwerke und kann ihre Erfahrung nutzen, sich für entsprechende Ansätze in der globalen Arena einzusetzen. Hierzu wird es aber auch entscheidend sein, selbst die nächsten Schritte zu gehen. Und diese müssen aus klassischen Hierarchien der Unterstützung und des Innovationstransfer-Verständnisses ausbrechen. Hierzu sollten neue Wege der Kollaboration umgesetzt werden, durch welche sukzessive andere Machtstrukturen etabliert werden, beispielsweise Süd-Nord Beratungen und die Schaffung von Arbeits-Tandems auf Augenhöhe – mit gleichen Rechten und zu gleichen Bedingungen. 

    Wie eingangs festgestellt, sind sechs Monate zu kurz, um grundlegende Machtstrukturen zu verändern und viele der systemischen Ansprüche der Strategie umzusetzen. Hier sprechen wir jedoch ausschließlich von einer neu formulierten Ausrichtung, nicht von einem unbeschriebenen Blatt. Es wird sich zeigen, inwiefern die deutsche EZ es schafft, auf bestehende Erfahrungen zu bauen und wichtige Hebelwirkungen in der Umstrukturierung von Machtstrukturen anzustoßen – hin zu einer tatsächlich feministischen Zukunft der Entwicklungskooperation. 

  • Click Work – It’s Complicated

    Foto von Andras Vas auf Unsplash

    Click Work – It’s Complicated

    Die sogenannte KI oder künstliche Intelligenz – lernende algorithmische Systeme, die auf der Grundlage von Daten autonome Entscheidungen treffen – hat sich schon längst in unseren Alltag integriert. Egal, ob Sie in sozialen Medien aktiv sind, Online-Zahlungs-Apps, Karten- und Navigations-Apps, Audio-zu-Text-Transkription, Autokorrektur und so weiter anwenden – Sie haben sich mit Sicherheit schon einmal, absichtlich oder unabsichtlich, auf eine algorithmische Entscheidungsfindung verlassen. Was den meisten jedoch nicht bewusst ist: hinter diesen scheinbar automatisierten und intelligenten Maschinen stehen die “unsichtbaren” Klickarbeiter*innen oder Clickworker. Klickarbeiter*innen sind für den Erfolg vieler dieser Systeme unerlässlich.

    Sie trainieren die Algorithmen dort, wo sie noch Defizite haben, füttern sie mit Daten und helfen ihnen, Dinge zu erkennen und zu kategorisieren, die sie noch nicht kennen. Zu ihren Aufgaben gehören die Kennzeichnung und Kategorisierung von Daten, die Aufnahme kurzer Sätze, die Moderation von Inhalten, die Transkription von Audiodaten und vieles mehr. Erscheint einem banal, ist jedoch extrem notwendig.

    Es ist erwiesen, dass die Arbeitsbedingungen rund um die Klickarbeit alles andere als fair sind und die Art und Weise, wie sie gestaltet ist, großen Unternehmen wie Facebook, OpenAI und Google sowie den Mikro-Tasking-Plattformen, die diese Unternehmen mit den einzelnen Klickarbeiter*innen verbinden, wie Clickworker, Amazon Mechanical Turk (AMT) und Sama zugute kommt, aber selten den Arbeiter*innen selbst. Klickarbeiter*innen haben kein offizielles Arbeitsverhältnis, sie sind in der Regel selbständig, haben keine Verträge und erhalten daher keine Sozialleistungen, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keinen Jahresurlaub, keine Krankenversicherung, keine Rentenversicherung und nicht einmal die Verpflichtung, den Mindestlohn des Landes zu zahlen, in dem sie wohnen, und werden im Akkord bezahlt.

    Die Aufgaben sind teils nur Minutenkurz und die Vergütung liegt nur bei ein paar Cent. Die Arbeitnehmer*innen werden oft nach Leistung und nicht nach der Zeit bezahlt, die sie für eine Aufgabe aufwenden, was bedeutet, dass die meisten Arbeitnehmer*innen so viele Aufgaben wie möglich übernehmen müssen, damit Klickarbeit sinnvoll ist. Wenn der Output nicht genehmigt wird, werden die Arbeitnehmer*innen für die Zeit nicht entlohnt, die sie für eine Aufgabe aufgewendet haben. All diese Bedingungen führen zu Überlastung, Angst und Depression, sozialer Isolation und auch Schlafmangel. Diese Plattformen sind bereits berüchtigt für ihre unfaire und intransparente Entlohnung und die Ausbeutung von Klickarbeiter*innen, insbesondere in Ländern mit globaler Mehrheit.

    Darüber hinaus sind die Klickarbeiter*innen, insbesondere die sogenannten Content Moderators, ständig erschreckenden Inhalten ausgesetzt, die sie herausfiltern müssen. Dieses führt zu psychischen Traumata bei unzureichender therapeutischer Unterstützung durch ihren Arbeitgeber.

    Außerdem bietet die Klickarbeit kaum Möglichkeiten für eine substanzielle berufliche Weiterentwicklung (durch Schulungen und/oder soziale Netzwerke), was bedeutet, dass die Arbeit kaum dazu beiträgt, einen stabileren Arbeitsplatz zu finden.

    Klickarbeit als Chance

    Trotz dieser bekannten Bedingungen zieht die Klickarbeit aus verschiedenen Gründen immer mehr Menschen an, wobei der wichtigste Grund die Flexibilität ist, die sie bietet. Aus diesem Grund ist die Klickarbeit für viele Frauen und Menschen mit Behinderungen besonders attraktiv. Da man für Klickarbeit das Haus nicht verlassen muss, schließen sich immer mehr Frauen mit Betreuungs- und Haushaltspflichten den Mikrotasking-Plattformen an. Das Gleiche gilt für Menschen mit Behinderungen, die sonst auf eine angemessene Infrastruktur angewiesen wären (die in den Ländern der globalen Mehrheit in der Regel fehlt), um zur Arbeit zu gelangen, oder die ihr Haus gar nicht verlassen können.

    Darüber hinaus können diese Plattformen als eine große Chance für eine bessere Eingliederung gefährdeter und marginalisierter Gruppen gesehen werden – die es normalerweise schwer haben, einen Arbeitsplatz zu finden -, da jede/r diesen Plattformen beitreten kann, auf denen Diskriminierung u. a. aufgrund von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Alter, Behinderung, Bildungsniveau, Vorstrafen und/oder Einwanderungsstatus minimiert wird oder gar nicht vorhanden ist. Mit anderen Worten: Diese Plattformen fungieren als Tor zum digitalen Arbeitsmarkt, wo der Zugang zum traditionellen Arbeitsmarkt nicht möglich oder schwierig ist, indem sie Barrieren und unflexible Arbeitszeiten beseitigen. Diese Art von Arbeit ist auch eine große Chance für prekär Beschäftigte und hochqualifizierte, aber unterbeschäftigte Menschen, insbesondere in Ländern mit globaler Mehrheit.

    Klickarbeit kann daher als Emanzipations- und Empoweringsinstrument für viele Gruppen von Menschen betrachtet werden, die ansonsten auf die finanzielle Unterstützung anderer angewiesen wären, um ihre Grundbedürfnisse überhaupt decken zu können.

    Vor allem viele Frauen können durch Klickarbeit ein Gefühl der Erfüllung empfinden, da sie sich von ihren erwarteten Haushaltspflichten unterscheidet, gleichzeitig jedoch nicht mit diesen Pflichten kollidieren muss. Darüber hinaus erhalten Frauen in patriarchalischen Gesellschaften, die aufgrund der Geschlechterrollen, die sie auf häusliche Pflichten und den Verbleib zu Hause beschränken, bisher nicht arbeiten durften, durch die Klickarbeit die Möglichkeit, in den Arbeitsmarkt einzutreten. Der finanzielle Gewinn, der sich daraus ergibt, kann zu mehr Autonomie und Handlungsfähigkeit führen.

    Gleicher Job, unterschiedliche Erfahrungen

    Trotz des in der Regel diskriminierungsfreien Zugangs zur Klickarbeit erleben verschiedene Gruppen von Menschen diese unterschiedlich, und ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren auf individueller Ebene kann unterschiedliche Auswirkungen auf Klickarbeiter*nnen haben. Deshalb ist es unbedingt notwendig, die Erfahrung von Klickarbeit aus einer intersektionalen feministischen und dekolonialen Perspektive zu betrachten.

    Klickarbeit in globalen Minderheit- vs. globalen Mehrheitsländern

    Klickarbeit ist ein globales Phänomen. Sowohl Menschen aus globalen Minderheiten- als auch aus globalen Mehrheitsländern sind zunehmend auf der Suche nach Klickarbeit, um finanziellen Gewinn zu erzielen. Tatsächlich sind die meisten AMT-Klickarbeiter in den USA ansässig, wobei Indien der zweitgrößte Anbieter von Klickarbeit für AMT ist. Theoretisch ist der Zugang zu diesen Plattformen vorurteilslos und für alle offen. Doch praktisch werden auf diesen Plattformen bestehende geografische Ungleichheiten reproduziert und sogar ausgenutzt.

    Es besteht ein enormes Lohngefälle zwischen den Ländern der globalen Mehrheit und den Ländern der globalen Minderheit, wobei die Entlohnung in den Ländern der globalen Mehrheit deutlich niedriger ist. Das Fehlen von Arbeitnehmerschutzgesetzen, die auch einen allgemeinen Mindestlohn vorschreiben, wird in der Regel ausgenutzt und ist einer der Hauptgründe für die Auslagerung dieser Aufgaben. Darüber hinaus werden höher bezahlte Aufgaben in der Regel Klickarbeiter*innen aus globalen Minderheitsländern mit dem Argument vorbehalten, dass sie über eine höhere Qualifikation verfügen, obwohl viele Klickarbeiter*innen aus globalen Mehrheitsländern für diese Aufgaben überqualifiziert sind. Gleichzeitig werden schlechter bezahlte Aufgaben gezielt an Arbeitnehmer*innen aus Ländern der globalen Mehrheit vergeben, da sie meistens bereit sind, für viel weniger Geld zu arbeiten.

    Arbeitnehmer*innen aus Ländern der globalen Mehrheit werden dazu gebracht, gegeneinander zu konkurrieren, wer mehr für weniger Geld arbeiten kann. Klickarbeit-Plattformen machen sich diesen ‚Race to the bottom‘ zunutze, wohlwissend, dass es keine lokalen gesetzlichen Maßnahmen gibt, die dieses Phänomen durch die Durchsetzung eines allgemeinen Mindestlohns verhindern würden. Postkoloniale Strukturen lassen diese Art der Ausbeutung zu. Darüber hinaus werden Klickarbeiter*nnen ständig von KI-Bewertungssystemen überwacht und ihre Arbeit verfolgt, was den Plattformen die Möglichkeit gibt, die Arbeitsprozesse der Klickarbeiter*nnen ständig zu beobachten und ihnen Zugang zu massiven Daten zu gewähren.

    Die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte mit unfairen Arbeitsbedingungen in Ländern der globalen Mehrheit durch Big Tech-Unternehmen ist ein Ausdruck des digitalen (Neo-)Kolonialismus.

    Frauen in der Klickarbeit

    Obwohl der Klickarbeit-Arbeitsmarkt weltweit gesehen überwiegend männlich ist, arbeiten aus den oben genannten Gründen zunehmend Frauen auf Klickarbeit-Plattformen. Das Verhältnis von Männern und Frauen, die in der Klickarbeit tätig sind, ist je nach Land oder Region unterschiedlich. Während beispielsweise in den USA 55 % der AMT-Beschäftigten Frauen sind, sind in Indien nur 18 % der AMT-Beschäftigten Frauen. Die Zahlen sind vielleicht nicht in jeder Studie gleich, aber die allgemeine Richtung ist dieselbe: Derzeit sind mehr Männer als Frauen in der Klickarbeit tätig. Eines ist jedoch klar: Frauen und Männer haben unterschiedliche Gründe für die Klickarbeit, und die Klickarbeit wird von Männern und Frauen unterschiedlich erlebt.

    Bei Männern ist es viel wahrscheinlicher als bei Frauen, dass sie einen regulären Vollzeitjob haben, bevor sie Klickarbeit annehmen. Bei Frauen hingegen ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie in einem unkonventionellen Arbeitsverhältnis stehen, z.B. als Selbstständige, in einem Teilzeitjob, im Ruhestand oder sogar arbeitslos. Mehr Frauen als Männer verlassen sich auf die Klickarbeit als ihre primäre oder einzige Einkommensquelle. Für die meisten Männer ist die Klickarbeit eine Möglichkeit, ihr Einkommen aufzubessern, aber sie verlassen sich nicht vollständig darauf. Klickarbeiterinnen, selbst überqualifizierte, sind daher eher geneigt, die prekären Arbeitsbedingungen der Klickarbeit zu akzeptieren, da sie davon abhängig sind und möglicherweise keine andere Arbeit finden.

    Die Tatsache, dass die Motivationsfaktoren von Männern und Frauen unterschiedlich sind, kann direkt auf die patriarchalische Struktur der Gesellschaft zurückgeführt werden. Klickarbeiterinnen sind stärker durch Geschlechterrollen eingeschränkt als Männer. In der Tat ist die Klickarbeit für viele Frauen und die Männer in ihren Familien aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Verantwortung sogar vorzuziehen. Erstens ist die Schwierigkeit, mit der insbesondere Frauen beim Eintritt in den traditionellen Arbeitsmarkt konfrontiert sind, einer der Hauptgründe für viele Frauen, andere Arbeitsformen wie die Klickarbeit zu suchen. Zweitens werden Frauen, wie bereits erwähnt, durch die häufig vorgeschriebenen Haushaltspflichten, die sich aus den Geschlechterrollen ergeben, auf den häuslichen Bereich beschränkt und können nicht in den traditionellen Arbeitsmarkt eintreten. Klickarbeit bietet diesen Frauen eine großartige Möglichkeit, von ihren Familien die Zustimmung zur Arbeit zu erhalten, da sie weiterhin zu Hause bleiben und “ihre Pflichten als Frau, Ehefrau und Mutter erfüllen” können. Einige Frauen geben sogar ihre regulären Jobs auf, um Klickarbeiterinnen zu werden, da dies mehr mit den Erwartungen an sie übereinstimmt, während andere ihre Tätigkeit vor ihren Familien, die nicht akzeptieren, dass eine Frau Arbeitet, verbergen müssen.

    Da Frauen in erster Linie als Betreuerinnen angesehen werden, müssen Frauen mit Kindern die Arbeit mit der Betreuung ihrer Kinder und des Haushalts in Einklang bringen. Viele Frauen arbeiten an ihren Klick-Arbeitsaufgaben, während oder sogar nachdem sie ihre unbezahlte Betreuungsarbeit leisten. Die meisten Frauen arbeiten nachts für längere Zeiträume oder tagsüber für kürzere Zeiträume und erledigen damit auch kürzere Aufgaben. Viele Studien haben ein globales geschlechtsspezifisches Lohngefälle bei der Klickarbeit festgestellt, das darauf zurückzuführen ist, dass Frauen ständig durch ihre unbezahlte Betreuungsarbeit und ihre “häuslichen Pflichten” unterbrochen werden und daher nur kürzere und weniger gut bezahlte Aufgaben übernehmen können, trotz dass Frauen aber die gleiche Stundenzahl wie Männer arbeiten. Die meisten Männer hingegen arbeiten ununterbrochen nachts oder abends nach Beendigung ihrer Tagesbeschäftigung, ohne einen Zyklus von unbezahlter und bezahlter Arbeit durchlaufen zu müssen. Auch wenn die meisten Jobs für Klickarbeiter*innen aus Ländern der globalen Mehrheit nachts vergeben werden (aus Ländern der globalen Minderheit werden sie meist während des Arbeitstages vergeben), können Frauen diese Aufgaben aufgrund ihrer Betreuungspflichten tagsüber nicht wahrnehmen. In den meisten Fällen können sich Frauen, die Klickarbeit übernehmen, keine Kinderbetreuung leisten, und in Ländern mit unzureichenden Kinderbetreuungseinrichtungen haben sie keine andere Wahl, als zwischen Klick- und Betreuungsarbeit zu jonglieren.

    Die Überlastung und die Tatsache, dass ihre Betreuungsarbeit weder entlohnt noch besonders gewürdigt wird, weil sie selbstverständlich ist, kann sich auf die psychische und physische Gesundheit der Frauen auswirken. Der Aspekt der (persönlichen) Flexibilität, der viele Frauen anspricht, wird in Wirklichkeit durch die Verdoppelung der Belastung eingeschränkt. Wir sollten uns fragen, ob diese Flexibilität nicht die Freiheit der Frauen einschränkt, indem sie die patriarchalische Kontrolle darüber, wo, wie und in welchem Umfang Frauen arbeiten, verstärkt und die bestehenden Geschlechterrollen zementiert. Da Klickarbeiter*innen außerdem nach Stückzahlen bezahlt werden, müssen sie immer online/verfügbar sein, um einen angemessenen Betrag zu verdienen.

    Eine weitere wichtige Folge der Klickarbeit für Frauen ist die soziale Isolation und Entfremdung. Da Arbeiterinnen die ganze Zeit zu Hause bleiben, nimmt ihre Teilhabe an der Gesellschaft ab und sie werden unsichtbar. Die Rückkehr vieler Frauen von ihren traditionellen Arbeitsplätzen in die häusliche Enge sowie die soziale Isolation, die mit der Klickarbeit einhergeht, erhöhen das Risiko des Auftretens von häuslicher Gewalt und des Mangels an Unterstützung und Anerkennung durch die Gemeinschaft, der während des Covid-19 nachweislich zugenommen hat. Außerdem sind Frauen, die hinter dem Rücken ihrer Familien arbeiten, auch vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt.

    Während die Umstände der Klickarbeit Frauen im Allgemeinen stärker betreffen als Männer, sind, wie oben gezeigt, außerdem Frauen aus Ländern der globalen Mehrheit stärker betroffen als Frauen aus Ländern der globalen Minderheit. Das Fehlen angemessener sozialer Sicherungssysteme und guter Kinderbetreuungseinrichtungen in vielen Ländern der globalen Mehrheit stellt eine zusätzliche Belastung für arbeitende Frauen in Ländern der globalen Mehrheit dar. Außerdem sind die Geschlechternormen in den Ländern der globalen Mehrheit häufig stärker ausgeprägt, weshalb mehr Frauen bzw. ihre Familien in den Ländern der globalen Mehrheit es vorziehen, von zu Hause aus zu arbeiten.

    Fehlende Vergewerkschaftlichung und Regulierung

    Trotz der oben erwähnten unfairen Bedingungen im Zusammenhang mit der Klickarbeit ist eine gewerkschaftliche Organisation aufgrund der geografischen Streuung und der Isolation der Klickarbeiter*innen sehr schwierig. Der Grad der gewerkschaftlichen Organisation ist bei Klickarbeit-Plattformen recht niedrig (5 %). Die Arbeitnehmer*innen stehen daher vor der Herausforderung, bessere Bedingungen und ihre Rechte einzufordern, und da ihre Arbeitgeber nicht vertraglich gebunden sind, gibt es keine Garantien, dass ihre Forderungen erfüllt werden.

    Das Zuhause ist ein unterregulierter Ort, wird aber zunehmend zu einem Arbeitsplatz und im Falle vieler Klickarbeiter*innen zum einzig möglichen Arbeitsplatz. Die politischen Entscheidungsträger*innen müssen diese Tatsache anerkennen und die geschlechtsspezifischen Probleme im Zusammenhang mit der Klickarbeit anerkennen und angehen. Da viele Klickarbeiter*innen jedoch unsichtbar geworden sind und sich nicht gewerkschaftlich organisieren können, ist es für die Regulierungsbehörden schwierig, ihre Arbeitsbedingungen wahrzunehmen und anzuhören. Dadurch stehen die Regulierungsbehörden vor dem Hindernis, ihre Zielgruppe zu identifizieren, da Klickarbeiter*innen eine unsichtbare Arbeitskraft sind und nationale Statistiken über sie fehlen.

    Um Klickarbeiter*innen zu schützen, müssen Klickarbeit-Plattformen gezwungen werden, sich an internationale und nationale Arbeitsgesetze zu halten, und bei Nichteinhaltung zur Rechenschaft gezogen werden. Die nationalen Arbeitsgesetze müssen auf digitale Arbeitsplattformen ausgedehnt werden. Um die zusätzlichen Belastungen, denen Frauen ausgesetzt sind, zu bewältigen, müssen die Regierungen, insbesondere in Ländern mit globaler Mehrheit, in eine solide Betreuungsinfrastruktur investieren und für eine bessere soziale Absicherung sorgen. Mehr Sichtbarkeit, Rechenschaftspflicht und Vertretung können im Kampf für die Rechte von Klickarbeiter*innen einen großen Beitrag leisten.

    Schlussfolgerung

    Klickarbeit kann zwar für viele Frauen und marginalisierten Gruppen, die sonst nur begrenzten Zugang zum traditionellen Arbeitsmarkt haben, ein Instrument zur Stärkung des Selbstbewusstseins, der Handlungsfähigkeit, der Unabhängigkeit und der Eigenständigkeit sein, doch sie hat auch das Potenzial, strukturelle Ungleichheiten zu reproduzieren und jahrelange Fortschritte zunichte zu machen. Obwohl die allgemeinen Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit Klickarbeit bekanntermaßen ausbeuterisch sind, unterscheiden sich die Erfahrungen von Frauen als Klickarbeiterinnen aufgrund bestehender patriarchalischer struktureller Normen und Geschlechterrollen deutlich von denen der Männer.

    Sie schränken die Mobilität von Frauen und gefährdeten Gruppen ein und führen so zu einer weiteren Marginalisierung von der Gesellschaft. Darüber hinaus werden die Erfahrungen von Frauen in Ländern mit globaler Mehrheit durch das Fehlen von Sozialversicherungssystemen und Kinderbetreuungseinrichtungen sowie durch stärkere strukturelle und gesellschaftliche Ungleichheiten noch verschärft. Die Unsichtbarkeit von Klickarbeiter*innen aufgrund sozialer Isolation und mangelnder gewerkschaftlicher Organisierung stellt für die Regulierungsbehörden ein Hindernis dar.

    Wenn den Klickarbeiter*innen genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird, können die Plattformen, die sie beschäftigen, und ihre Einhaltung der internationalen und nationalen Arbeitsgesetze sowie die Bereitstellung starker Sozialsysteme die Eckpfeiler sein, um ein günstiges Umfeld für Klickarbeiter*innen zu gewährleisten.


    Der Artikel ist in der englischen Originalversion auch auf superrr.net zu finden.

  • Warum die Visapolitik Deutschlands das Gegenteil feministischer Außenpolitik ist

    Foto von CovertKit auf Unsplash

    Warum die Visapolitik Deutschlands das Gegenteil feministischer Außenpolitik ist

    (It’s not feminism if you can’t get a visa as a woman, stupid!)

    Seit 10 Jahren organisiere ich internationale Zusammenkünfte von Digitalisierungs-Expert*innen aus unterschiedlichsten Weltregionen im Kontext der re:publica, sowie deren Auftritte als Sprecher*innen auf der re:publica. Als eine von Europa’s größten Veranstaltungen zu Digitalisierung und Gesellschaftsthemen, ist die re:publica Aushängeschild der Hauptstadt, wenn nicht der Republik in Sachen Digitalisierung und fungiert als öffentlicher Diskursraum für Digitalisierungs- und Zukunftsdebatten. Es gab kein re:publica Jahr ohne negative Erfahrungen mit deutschen Botschaften beim Versuch, Menschen aus Ländern des Globalen Südens einzuladen, insbesondere Frauen.

    Vor neun Jahren wurde Harinjaka, ein Mitglied des Netzwerks Global Innovation Gathering, und späterer Ministeriumsmitarbeiter aus Madagaskar auf dem Weg zur re:publica am Flughafen Charles de Gaulle in Paris verhaftet und drei Tage lang in Abschiebehaft gesteckt. Die Begründung: Er hatte zwar ordnungsgemäß sein ausgestelltes Schengen-Visum, seinen von uns ausgestellten Einladungsbrief mit Garantie zur Kostenübernahme, seinem Rückflugticket und seinem Eintrag als Speaker auf der re:publica Website ausgedruckt dabei; aber die Hotelreservierung, die konnte er nur digital vorzeigen. Täglich boten ihm Beamte am Flughafen an, er könne direkt problemlos zurückfliegen. Er wollte allerdings zur re:publica und wartete drei Tage in seiner Abschiebezelle, bis der damalige Menschenrechtsbeauftragte des AA, Markus Löning, intervenierte. Kurz danach wurde Harinjaka freigelassen und durfte zur re:publica weiterreisen. Am letzten Tag der Veranstaltung hatte er seinen Bühnenauftritt. 

    Seitdem haben wir als einladende Organisation viel gelernt. Wir wissen, was passieren kann, wenn nur ein Schriftstück in einer Mappe von Antragsdokumenten fehlt oder unklar formuliert ist. Auch politisch ist seitdem viel passiert. Wir haben eine Außenministerin mit dem Anspruch, eine neue Ära der feministischen Außenpolitik einzuleiten. Die brauchen wir. Sie muss aber auch eine transparentere, fairere und feministische Visapolitik beinhalten. Hier hat sich nämlich in den letzten zehn Jahren sehr wenig verändert. Europa, insbesondere Deutschland, tut sein Bestes, potenzielle Fachkräfte, Partner*innen und inspirierende Innovator*innen davon abzuhalten, hierherzukommen – insbesondere wenn sie weiblich sind.  

    Eine Reihe intransparenter, veralteter Verfahren und Prozesse kennzeichnet die aktuelle Visapolitik der Bundesrepublik Deutschland, angefangen mit der Terminvergabe. In vielen Ländern funktioniert die Terminvergabe ungefähr so gut wie die der Berliner Bürgerämter – es ist schwer, an einen Termin zu kommen. So schwer, dass sich in Ländern wie dem Irak ein Schwarzmarkthandel entwickelt hat und Visatermine so gut wie ausschließlich über diesen Weg für mehrere hundert Dollar ergattert werden können. In manchen Ländern wie Ägypten sind kostenpflichtige telefonische Vergabeservices von Drittanbietern zwischengeschaltet, die sowohl Geld als auch die Daten der Visa-Antragstellenden abgreifen. 

    Eine Flughafen Abflugsanzeige

    Foto von CHUTTERSNAP auf Unsplash

    In zahlreichen Ländern akzeptieren die deutschen Botschaften nach wie vor keine E-Mails oder elektronisch übermittelten Dateien. Sie fordern stattdessen, dass z.B. nachzureichende Schriftstücke per Post zugesendet werden – in Ländern, in denen die Postzustellung oft nicht nur sehr teuer, sondern auch unzuverlässig ist, sodass dadurch erhebliche Zeit- und Kostenaufwände entstehen und der Prozess Risiko-anfälliger wird. Oft fragt man sich, ob hierdurch das Außengeschäft von DHL gefördert werden soll oder warum sonst moderne Kommunikationsmedien mit einer solchen Beharrlichkeit ignoriert werden. 

    Hat man erst mal einen Termin, wird man nicht unbedingt als Geschäftsreisende*r, sondern eher als potenzieller Flüchtling behandelt. Vor allem junge Frauen berichten immer wieder von verhörartigen Interviews, bei denen Fragen zum Familienstand und zum Heiratsinteresse eher die Norm als die Ausnahme sind. 

    Dies war dieses Jahr der Fall für eine Person aus dem Irak. Sama ging zusammen mit ihrem männlichen Kollegen zum Termin in die Botschaft. Am Ende des Gesprächs fragte der Interviewpartner, ob sie verheiratet sei. Als sie dies verneinte, meinte er, sie hätte sehr schlechte Chancen ihr Visum zu bekommen. Wir reagierten, indem wir auf ihren Wunsch ein extra Schreiben an die Botschaft sendeten, in dem nochmals ausdrücklich von uns garantiert wurde, dass sie aus professionellen Gründen nach Deutschland reisen möchte, dass wir alle Kosten und die Verantwortung für ihre Rückreise in den Irak übernehmen. In diesem Fall hatten wir Glück und ihr Visum wurde ausgestellt. Anders war es leider bei Bezawork aus Äthiopien. Ihr Visumantrag wurde abgelehnt, mit der Begründung, unsere Dokumentation habe nicht ausgereicht und die Sorge bestünde, sie könne sich den Aufenthalt nicht leisten, beziehungsweise würde nicht in ihr Land zurückkehren. Daher durfte die Leiterin des FabLabs an der Universität in Bahar Dar nicht kommen, obwohl sie mit unserem Einladungsschreiben, einer Hotelbestätigung und allen anderen Dokumenten ausgestattet war, die der Botschaft hätten diese Sorge nehmen können. Auf unseren Einspruch hierzu erhielten wir keinerlei Antwort. In den meisten Fällen wird eine Ablehnung gar nicht erst begründet. Das Muster ist jedoch meistens dasselbe: Unverheiratete Frauen haben es wesentlich schwerer als ihre männlichen Kollegen, ein Visum zur Einreise nach Deutschland zu erhalten, um Geschäftsreisen anzutreten oder Konferenzen zu besuchen. Natürlich leiden auch männliche Personen unter der intransparenten und restriktiven Visapraxis. Und ebenso Deutschland und Europa – denn die Politik der Festung Europa in den Visaabteilungen der deutschen Botschaften fortzusetzen ist ein falscher, nicht zukunftsfähiger Ansatz. 

    Wie lange können wir uns diese Visapolitik leisten? Dass Deutschland und Europa vor allem im IT-Bereich unter einem Fachkräftemangel leiden, ist schon lange klar und wird immer akuter. Dass wir hier nicht die Vorreiter in digitaler Innovation sind, sondern von inspirierenden Beispielen aus aller Welt lernen könnten auch. Darüber hinaus haben Europa und Deutschland ein Interesse an neuen Bündnispartnern im Zuge sich verschiebender, geopolitischer Allianzen, sowie im Kontext des europäischen Versuchs, einen regulativen, menschenrechtszentrierten Ansatz der Digitalisierung in Europa zu etablieren, der auch in andere Regionen der Welt ausstrahlt. Hierzu braucht es Gespräche, Begegnungen, Austausch und das Verständnis, dass uns Menschen aus anderen Ländern nicht immer nur unseren Wohlstand wegnehmen wollen, sondern einen wesentlichen Beitrag leisten können, diesen für zukünftige Generationen zu erhalten.

  • Digitale Kultur und internationale Projekte

    Foto “I’ve got the power” von Falko One (@falko_fantastic) auf Instagram

    Digitale Kultur und internationale Projekte

    In „Einblicke & Ausblicke“ präsentieren wir spannende Projekte, Kunst, Events u.v.m. rund um digitale Kultur und internationale Zusammenarbeit. Diesmal mit dabei: Renata Ávila Pinto und Falko One.

    African Space Makers

    Mit VR einen immersiven Einblick in die Kreativräume Afrikas erhalten? Die VR-Doku-Fiktionsreihe African Space Makers lässt uns in der Rolle diverser Innovator*innen verschiedene Makerspaces und kreative Projekte in Nairobi und deren sozialen und politischen Einfluss erkunden. Die von The Nrb Bus, Black Rhino VR und INVR.SPACE produzierte Serie startet mit 5 Folgen in die erste Staffel, angekündigt ist schon eine zweite Staffel, in welcher wir einen weiteren urbanen Hotspot Afrikas erkunden können!

    Ein Film-Still der Dokumentation African Space Makers. Der Hintergrund ist eine Illustration 
verschiedener Gendersymbole in Weiß auf schwarzem Hintergrund.  Unten in der Mitte sind zwei mittels Greenscreen eingefügte Personen, von denen eine eher weiblich gelesen ist, die andere eher männlich.   Sie stehen vor jeweils einem Pfeil im illustratorischen Stil, der in ihre Richtung zeigt.

    Foto von AFRICAN SPACE MAKERS auf africanspacemakers.space

    Reworlding

    Der Serpentine Podcast “reworlding” erforscht Praktiken der Imagination, die durch aufstrebende Technologien in unserer Realität auf neue und zugängliche Weise Gestalt annehmen. In fünf Episoden werden verschiedene Künstler*innen, Designer*innen, Autor*innen und Menschen, die unsere Wahrnehmung der Realität neu gestalten wollen, eingeladen, um über ihre eigenen Visionen und Projekte zu sprechen und die Vorstellungskraft der Zuhörenden anzuregen und herauszufordern.

    Open Knowledge Foundation

    Für unser erstes Konnektiv_Impuls Interview hatten wir passend zu unserem Open Source-Schwerpunkt der Ausgabe die Ehre, mit Renata Ávila zu sprechen. Neben zahlreichen Engagements rund um das Themenfeld Technologie und Gesellschaft ist die Menschenrechtsanwältin seit 2021 Geschäftsführerin der Open Knowledge Foundation.

    Die internationale gemeinnützige Organisation, setzt sich für Offenheit, Transparenz und das Teilen von Daten und Informationen ein. Ihre Mission ist es, durch Veranstaltungen, die Entwicklung von Tools und Standards sowie die Unterstützung von Projekten und Gemeinschaften auf eine offene Zukunft hinzuarbeiten, in der der Zugang zu Wissen für alle gewährleistet ist.

    Die Förderung der digitalen Mündigkeit und des ethischen Umgangs mit Technologien gehört ebenfalls zu den Zielen der Organisation.

    Weitere Informationen zum Thema Open Knowledge und Data finden Sie auf der Website.

    Renata Ávila Pinto

    Foto von Renata Ávila Pinto, Expertin für globale Digitalpolitik, Geschäftsführerin der Open Knowledge Foundation und Interviewpartnerin im ersten Konnektiv Gast-Impuls.

    Digital Civil Society – Access OpenTech

    Schon unseren Artikel zum Thema FOSS (Free Open Source Software) gelesen? Dieser erschien letzten Monat im Rahmen einer spannenden Veröffentlichung des Instituts für Auslandsbeziehungen, die sich mit verschiedenen Aspekten von FOSS beschäftigt.

    In essayistischen Beiträgen und Interviews beleuchtet die Publikation, wie offene Software zu einer digital souveränen Zivilgesellschaft beiträgt, welche Freiheiten dadurch ermöglicht werden und wie empowernd sich die Arbeit mit offener Software anfühlen kann. Es freut uns sehr, dass wir mit einem Artikel einen Teil zu der im Rahmen des crossculture-Programms entstandenen Publikation beitragen konnten.

    Falko One

    Das Werk „I’ve got the power” des südafrikanischen Street-Art-Künstlers Falko One ziert den Titel dieses ersten Kulturimpulses. Konnektiv hatte das Glück, das Bild im letzten Jahr für unser Büro erwerben zu können und damit RLABS zu unterstützen.

    Falko One schuf sein erstes Graffiti 1988 und war in seinen Anfängen stark von der Hip-Hop-Kultur beeinflusst. Seitdem hat er sich mit seiner Kunst einen Namen als einer der wichtigsten Street-Art-Künstler der Welt gemacht. Falko One legt besonderen Wert darauf, seine Kunst nicht intrusiv zu gestalten, sondern in Einklang mit der lokalen Umgebung und Gesellschaft zu bringen und so Kunstwerke zu schaffen, die mit Wänden und Gebäuden zu verschmelzen scheinen.

    Der Künstler ist temporärer Aussteller in der RLABS-Galerie. RLABS ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Kapstadt, die sich für den Aufbau und die Stärkung lokaler Gemeinschaften einsetzt. Durch Beratung, Bildungsangebote, Workshops und Veranstaltungen im eigenen Innovation Lab fördert RLABS Innovation und starke lokale Netzwerke.

    Foto “I’ve got the power” von Falko One (@falko_fantastic) auf Instagram

  • Warum ich Free & Open Source Software nutze

    Foto von Efe Kurnaz auf Unsplash

    Warum ich Free & Open Source Software nutze

    Wie ich FOSS entdeckte

    Sie sollte die sicherste Firewall der Welt sein. Es war mein erster Kontakt mit Free and Open Source Software (FOSS). Mein Mitbewohner war begeistert, als er die Software zusammenstellte, die “kompiliert” werden musste. Mit einer anderen Software namens “Compiler”. All das lief auf einem veralteten PC ohne Windows. Ohne Windows? War das möglich? “Linux” nannte er es und seine Augen funkelten vor Freude. “Schau”, sagte er, “so richtet man den Kernel ein. Ist das nicht faszinierend? Du kannst das selbst machen!” Und auf diese Weise zeigte er mir völlig neue Welten. Seltsame Begriffe wurden immer vertrauter und ich lernte wie Computer funktionieren. Und ich kann sie verstehen! Ich kann sie sogar verändern! Das war FOSS.

    Die Firewall erwies sich tatsächlich als sehr sicher: Niemandem wurde Zugang zur anderen Seite gewährt, da sie alles blockierte. Es hat einige Nächte gedauert, um diese selbst erstellte Software und Konfiguration zu meistern. Am Ende waren alle anderen Mitbewohner*innen wütend. “Du hast es kaputt gemacht. Jetzt reparier das Internet!” Und das taten wir dann auch.

    FOSS bedeutet Souveränität und Teilen

    Es ist nicht leicht das Internet zu reparieren, wenn man vor ein paar Tagen noch keine Ahnung hatte, was ein Netzwerkpaket ist oder ein Compiler ist. Aber der Punkt ist: Mit FOSS wurde mir die Möglichkeit gegeben genau das zu tun. Für mich geht es bei FOSS nicht um Software, für die man nicht bezahlen muss. Es geht um Souveränität. Zugang zu Technologie zu erhalten und sie sich zu eigen zu machen. Windows aufzugeben und zu Ubuntu und anderer Open-Source-Software zu wechseln, hat sich empowernd angefühlt. Die Macht von FOSS – eine Lektion, die ich auch von der “sichersten Firewall der Welt” gelernt habe – kommt vom Teilen. Sein Wissen zu teilen und andere in seine Arbeit schauen zu lassen, bedeutet im Grunde genommen Macht zu teilen. Ich denke, das ist grundlegend für FOSS: Sie müssen bereit sein, Wissen und Macht, die Ihnen gegeben wurden, zu teilen.

    Es begann mit einer nicht richtig funktionierenden Firewall. Aber es gab noch so viel mehr mit FOSS und der Open-Source-Community zu entdecken. Sehr viel mehr. Und ich freute mich darauf zu lernen. Eine hervorragende Voraussetzung für Open Source, auch wenn man sich beruflich mit Themen beschäftigt, die auf den ersten Blick weit weg von Computern und Technik zu sein scheinen.

    FOSS für die internationale Zusammenarbeit

    Mein Fach war Kulturwissenschaften, und mein beruflicher Einstieg war in der Entwicklungs-zusammenarbeit, wo es nicht hauptsächlich um Software ging. Für viele Menschen scheint es in der internationalen Zusammenarbeit immer noch um die “Entwicklung” anderer zu gehen.

    Dieser Begriff beinhaltet eindeutig Machtverhältnisse und erinnert uns zu Recht an koloniale Gewohnheiten, die wir sicher nicht mehr reproduzieren wollen. Aber trotzdem passiert das immer noch, und das wollten meine Kolleg*innen und ich ändern – mit FOSS. In der internationalen Zusammenarbeit bedeutet IT oft, dass ein westliches IT-Unternehmen seine Software verkauft und dann vor Ort in dessen Nutzung schult. Dieser Ansatz führt natürlich zu Abhängigkeiten und vergrößert das vorhandene Machtungleichgewicht.

    Wir schlugen daher vor, mit FOSS zu arbeiten und führten verschiedene regionale Projekte mit afrikanischen und asiatischen Partner*innen durch. Einige Aktivitäten umfassten die Übersetzung der Word-Alternative Open Office und Handbüchern ins Khmer, Schulungen zur Linux-Systemadministration oder die Verbesserung praktischer Programmierkenntnisse im Informatikstudium. Ziel war es nicht, die Abhängigkeitsstrukturen zu vertiefen, sondern Menschen in ihrer Souveränität zu unterstützen. Jede*r sollten Fähigkeiten entwickeln können, um selber zu programmieren oder Software an lokale Bedürfnisse anzupassen. In vielen afrikanischen Ländern ist z.B. Ubuntu ein sehr beliebtes Betriebssystem, das auf dem afrikanischen Kontinent entstanden ist und inzwischen weltweit eine aktive Community hat.

    Jede*r kann zu FOSS beitragen

    FOSS kultiviert eine bestimmte Mentalität: Man schreibt Software und teilt sie. Das spart nicht nur viel Arbeit, da man auf bereits Vorhandenes zurückgreifen kann und nicht bei Null anfangen muss. Wenn viele Leute mitarbeiten, kann auch bessere Software entwickelt werden. Auch die Form der Zusammenarbeit ist interessant: Jede*r kann FOSS nutzen, dazu beitragen, etwas verbessern oder nach eigenen Bedürfnissen erweitern.

    FOSS bedeutet Wissen teilen

    FOSS ist aber weit mehr als das Erstellen von Software unter bestimmten rechtlichen Einschränkungen. Bei der Erforschung dieser Art von Ermächtigung lernte ich nicht nur viel über andere, sondern auch über mich selbst, meine eigenen Möglichkeiten und über Machtverhältnisse im Allgemeinen. Immer noch auf der Suche nach dem Verständnis für das Innenleben dieser kryptischen Maschinen auf meinen Schreibtischen (und inzwischen überwiegend in meinen Taschen), beschloss ich, zusätzlich zu meinem Beruf Informatik zu studieren.

    Es war keine Überraschung für mich, dass die meisten Materialien während des Studiums auch Open Source waren, mehr noch, man könnte sagen, dass Bildung das natürliche Habitat von FOSS ist, da es Menschen durch das Teilen von Wissen bestärkt. Und wie Bildung kann auch FOSS nur entstehen und wachsen, wenn es Menschen gibt, die bereit sind, es in ihrem Leben zuzulassen. Ich denke, dass es kein Zufall ist, dass FOSS-Leute oft so aktiv in Netzwerken sind. Networking ist ein wesentlicher Bestandteil von FOSS, was ich auf vielen Open-Source-Konferenzen und ähnlichen Veranstaltungen erfahren konnte. FOSS hat mein Leben verändert. Und nicht nur meins: FOSS ist eigentlich überall angekommen.

    FOSS-Alternativen gibt es für alle Anwendungen

    Heute arbeite ich zum Beispiel viel mit WordPress, das als System für Blogs begann, aber heute das meistgenutzte Content Management System für Websites ist. Es verfügt über 60.000 kostenlose Erweiterungen (Plugins) von Autor*innen aus der ganzen Welt, mit denen man seine eigene Webanwendung erstellen kann. Wir verwenden es häufig zum Aufbau von Peer-Learning-Plattformen mit verschiedenen Tools für die Zusammenarbeit, von Messaging über Foren bis hin zu Videokonferenzen. Wenn wir eine Funktion benötigen, die noch fehlt, kann sie programmiert und im Anschluss allen zur Verfügung gestellt werden.

    Gibt es etwas, das weiter verbreitet ist als WordPress? Mein Smartphone wird von seinem ursprünglichen Betriebssystem nicht mehr unterstützt, läuft aber perfekt mit LineageOS, einem FOSS-System. Daher bin ich nicht gezwungen, mein Phone alle zwei Jahre zu wechseln, nur weil die installierte Software nicht mehr unterstützt wird, sondern kann es mit FOSS viele Jahre lang umweltfreundlich nutzen. Außerdem kann es mich nicht mehr Tag und Nacht orten. Das passiert, wenn man seine technologische Souveränität zurückgewinnt und wieder anfängt, selbst Entscheidungen zu treffen.

    Für fast alle Softwareanwendungen gibt es eine gute FOSS-Alternative. Diese sollten bevorzugt in Projekten der internationalen Zusammenarbeit berücksichtigt werden. Daher ist FOSS auch ein wichtiger Teil der Principles for Digital Development, welche die Wirkung, Effizienz und die Zusammenarbeit der globalen Entwicklungs-Community verbessern möchten. Die Initiative gibt Empfehlungen und Best Practices für die Umsetzung von offenen und partizipativen Ansätzen und empfiehlt explizit den Einsatz von FOSS.


    Der Artikel ist im Rahmen eines FOSS-Workshops mit dem CrossCulture Programme des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) entstanden und erschien dort in der Publikation Digital Civil Society. AccessOpenTech.