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  • Interview mit Miriam Seyffarth

    Portrait von Miriam Seyffarth

    Interview mit Miriam Seyffarth

    In dieser Ausgabe ist Miriam Seyffarth, Leiterin für Politische Kommunikation bei der Open Source Business Alliance, bei uns zum Thema Netzwerke zu Gast! Mit einem Hintergrund in politischer und kultureller Arbeit setzt sie sich bei der OSB Alliance leidenschaftlich für ihr Herzensthema Open Source ein. In unserem Gespräch beleuchtet Miriam die entscheidende Rolle der Community-Pflege für offene Technologien, wir sprechen über die Arbeit der OSB Alliance und welche Strukturen noch ausgebaut werden können, um das Innovationspotenzial der Open Source Communities zu entfalten. Willkommen zu einem spannenden Einblick in die Zukunft der digitalen Souveränität!

    Was macht die OSB Alliance?

    Die Open Source Business Alliance – Bundesverband für digitale Souveränität e.V. ist der Industrieverband der deutschen Open-Source-Wirtschaft. Wir vertreten über 200 Mitgliedsunternehmen, die in Deutschland rund 95.000 Mitarbeiter*innen beschäftigen und einen Jahresumsatz von über 126,8 Mrd. Euro erwirtschaften. Zusammen mit unseren wissenschaftlichen Einrichtungen und Anwender*innenorganisationen setzen wir uns dafür ein, die zentrale Bedeutung von Open Source Software und offenen Standards für eine digital souveräne Gesellschaft nachhaltig im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Dieser digitale Wandel soll Unternehmen, Regierungen, Behörden und Bürgern gleichermaßen zugute kommen. Wir treten dafür ein, Open Source als Standard in der öffentlichen Beschaffung und bei der Forschungs- und Wirtschaftsförderung zu etablieren. Um unsere Ziele zu verwirklichen, stehen wir Unternehmen, Privatpersonen, Medien und der Politik als Expert*innen und Ansprechpartner*innen zur Verfügung.

    Warum ist Netzwerkarbeit besonders im Open Source Kontext wichtig?

    Gerade in der Open-Source-Branche sind viele kleine und mittelgroße Unternehmen aktiv, die miteinander in unterschiedlichsten Konstellationen kooperieren, um gemeinsam Software zu entwickeln oder Dienstleistungen anzubieten. Einige Unternehmen entwickeln Software, wieder andere Unternehmen bieten z.B. Schulungen oder Support für eben diese Software an. Viele Firmen verwenden Software oder Komponenten von anderen Mitgliedern des Open-Source-Ökosystems und bauen diese in ihre eigenen Lösungen ein. Gerade bei größeren Aufträgen schließen sich auch immer wieder Open-Source-Unternehmen zu Konsortien zusammen, um diese Aufträge übernehmen zu können. Die Netzwerkarbeit ist also schon allein aus wirtschaftlicher Sicht total wichtig.

    Insgesamt gibt es im Open-Source-Kontext sehr komplexe Geflechte von Unternehmen, öffentlicher Verwaltung, ehrenamtlichen Communities und Zivilgesellschaft und Wissenschaft, die miteinander agieren und Open Source gemeinsam voranbringen. Dieses vielfältige Ökosystem muss zum einen gepflegt und zum anderen politisch repräsentiert werden. Das übernehmen wir zusammen mit Partnerorganisationen wie z.B. der Free Software Foundation Europe und anderen. Wenn wir uns untereinander vernetzen, können wir unsere gemeinsamen Ziele besser verfolgen und z.B. gegen immer noch verbreitete  Vorurteile und Missverständnisse in Bezug auf Open Source ankämpfen. Gemeinsam können wir deutlich machen, wie groß das Potential von Open Source Software für Gemeinwohl, digitale Souveränität und Gesamtwirtschaft ist.

    techy OPEN-Schild in Leuchtbuchstaben

    Foto von Ben Taylor auf Pexels

    Arbeit an Open-Source-Projekten ist per se auch Netzwerkarbeit. Inwiefern sind Open Source Communities auch relevant für die Arbeit der OSB Alliance? (Gibt es hier andere Beziehungen zwischen Akteuren als in anderen Tech Bereichen?) 

    Viele der Mitgliedsunternehmen der OSB Alliance sind von Personen gegründet worden, die seit langen Jahren in Open-Source-Communities aktiv sind. Das hat diese Personen und damit auch ihre unternehmerische Tätigkeit sehr geprägt, die meisten Open-Source-Unternehmen sind z.B. sehr wertegetrieben. Die Communities spielen für die Open-Source-Unternehmen auch heute noch eine zentrale Rolle, denn viele Open-Source-Lösungen leben von der aktiven Community, die Bugs meldet, Feature Requests weiter gibt und generell die Software mit ihrem Interesse und ihrem Engagement am Leben erhält. Oftmals wechseln Community-Mitglieder irgendwann von der ehrenamtlichen Seite in das entsprechende Unternehmen und machen so quasi ihr Hobby zum Beruf. Die Unternehmen nehmen die Communityarbeit daher auch sehr ernst, viele Firmen haben z.B. eigene Communitymanager*innen, die sich intensiv um den Austausch mit der Community kümmern. Davon profitiert das jeweilige Unternehmen und damit auch wir als Verband.

    Ein häufiges Missverständnis ist, dass Communities automatisch entstehen würden, sobald man eine Open-Source-Lösung hat. Unsere Mitglieder wissen, dass das nicht so ist und dass man in den Aufbau und die Pflege einer Community Zeit und Energie stecken muss. Als Verband klären wir regelmäßig darüber auf, welche zentrale Rolle Communities in der Zusammenarbeit mit kommerziellen Open-Source-Unternehmen spielen.

    Diese Verflechtungen von Open-Source-Unternehmen und dazugehörigen Communities zeigen auch, dass das Besondere an Open Source ist, dass hier nicht nur Mehrwerte für die Wirtschaft entstehen, sondern auch für das Gemeinwohl und die Zivilgesellschaft. Am Ende des Tages sind wir daher ein Wirtschaftsverband, der zum einen die wirtschaftlichen Interessen unserer Mitglieder vertritt, dem aber Gemeinwohlaspekte wie z.B. „Public Money, Public Code“ ebenfalls sehr wichtig sind. Das geht auch aus unseren Leitlinien so hervor. Das unterscheidet uns wahrscheinlich von den meisten anderen Wirtschaftsverbänden. 

    Abstrakte Sprechblasen in verschiedenen Farben

    Foto von DeepMind auf Pexels

    Wie fördert die OSB Alliance den Aufbau von Netzwerken (zwischen Mitgliedern und nach extern)?

    Innerhalb des Verbandes haben wir zahlreiche  Austauschformate zum netzwerken: Die Mitglieder organisieren ihre gemeinsame inhaltliche Themenarbeit in Working Groups und Task Forces mit regelmäßigen Videocalls, über unsere interne Diskussionsplattform humhub und über Veranstaltungen vor Ort wie z.B. den Sovereign Cloud Stack Summit am 14. Mai in Berlin oder unseren jährlichen Netzwerktag im November in Berlin. Diese Events sind immer eine gute Gelegenheit, um sich sowohl unter den Verbandsmitgliedern zu vernetzen als auch mit dem „erweiterten Freundeskreis“ der OSB Alliance. Bei unserem regelmäßigen Format „Members & Products“ steht die Vernetzung der Mitglieder untereinander ganz besonders im Fokus.

    Als Verband haben wir außerdem eine ganze Reihe von Kooperationen mit anderen Organisationen, die ähnliche Ziele verfolgen, wie z.B. die Free Software Foundation Europe oder die Open Logistics Foundation. Je nach Thema gibt es immer mal wieder einzelne Kooperationen mit Organisationen wie z.B. dem Weizenbaum-Institut, Wikimedia Deutschland oder dem Bitkom. 

    Und wir sind als Verband auch selbst Mitglied in anderen Organisationen wie z.B. unseren europäischen Dachverband APELL, in dem die europäischen Open-Source-Business-Verbände organisiert und untereinander vernetzt sind. Einmal im Jahr findet eine große Konferenz der APELL-Mitglieder statt, bei der sich die Mitglieder aus ganz Europa vernetzen. Dieses Jahr ist dieses Netzwerkevent im Juni in Berlin.

    Inwiefern vernetzt sich die OSB Alliance international? Mit wem?

    Neben der bereits angesprochenen Vernetzung in unserem europäischen Dachverband APELL sind wir auch in regelmäßigem Austausch mit dem OpenForum Europe. Mit den hier vernetzen Organisationen, Stiftungen, und Unternehmen haben wir beispielsweise im vergangenen Jahr intensiv den Cyber Resilience Act begleitet und immer wieder kommentiert.

    Außerdem sind bei uns in der OSB Alliance nicht nur deutsche Unternehmen Mitglied, sondern z.B. auch Unternehmen aus Frankreich, der Schweiz oder Österreich, die auch unternehmerisch in Deutschland tätig sind. Daher gibt es immer wieder auch einen Austausch mit unseren Schwesterverbänden in den Nachbarstaaten, z.B. mit CNLL in Frankreich. Und wir besuchen auch regelmäßig Veranstaltungen und Konferenzen in Europa und der ganzen Welt, beispielhaft seien hier mal die „Open Source Experience“ in Paris und der „FOSSASIA Summit“ genannt. Dort vernetzen wir uns international mit anderen Open-Source-Unternehmen und Communities. Eines unserer Mitglieder war auch kürzlich bei einer Delegationsreise des Bundesministerium für Digitales und Verkehr nach Kenia dabei, um sich vor Ort einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Rolle Open Source bei lokalen Communities und der öffentlichen Verwaltung spielt.

    Was fehlt noch an Strukturen für die Community um ihr volles Innovationspotenzial entfalten zu können und die nächste Stufe was Anwendung und Akzeptanz angeht zu nehmen?

    Zum einen ist hier der Staat am Zug: Open Source wird zwar in diversen Beschlüssen, dem Koalitionsvertrag, der Digitalstrategie, der Deutschen Verwaltungscloud-Strategie etc. immer wieder positiv hervorgehoben und an vielen Stellen auch schon von der öffentlichen Verwaltung eingesetzt. Aber wenn es darum geht, auch gezielt in das Open-Source-Ökosystem zu investieren, nachhaltige offene Infrastrukturen aufzubauen und Kompetenzen aufzubauen, dann rutscht Open Source bei der Politik schnell wieder nach unten auf der Prioritätenliste und dann wird doch lieber wieder für viele Milliarden Euro proprietäre Software eingekauft – obwohl die Vorzüge von Open Source Software den Beteiligten durchaus bekannt sind. Das muss sich dringend ändern, wir brauchen nicht nur Lippenbekenntnisse, sondern auch mehr konkretes Commitment. Dafür setzen wir uns als Verband politisch ein.

    Wir kümmern uns zum anderen aber auch darum, bestehende Vorurteile und Missverständnisse abzubauen und über die Vorzüge von Open Source für Wirtschaft und Gemeinwohl zu informieren.

    In vielen Fällen ist es auch so, dass Verwaltungen oder Unternehmen auf uns zukommen und sagen „Wir wollen gerne Open Source einsetzen, wissen aber noch nicht so richtig, wo wir anfangen sollen“. Hier versuchen wir Hilfestellungen zu geben und zu unterstützen.

    Wir haben als Verband in den letzten Jahren viel Sichtbarkeit gewonnen und werden daher inzwischen oft für Stellungnahmen oder Projekte angefragt – immer wieder kommen wir dabei an die Grenzen unserer Ressourcen, dabei würden wir gerne noch viel mehr Initiativen und Projektideen auf die Straße bringen. Deswegen freuen wir uns immer über neue Mitglieder, die Lust haben, sich gemeinsam mit uns in einem vielfältigen politischen Themenspektrum für Open Source zu engagieren.

  • Make sure you’re connected – The writing’s on the wall

    Image by Pete Linforth from Pixabay

    Make sure you’re connected – The writing’s on the wall 

    Die Kraft von Netzwerken zur Skalierung neuer Ansätze für ökologische Nachhaltigkeit

    Unsere Welt wird zunehmend komplexer. Während sich viele potentiell sehr einflussreiche Technologien rasant entwickeln und immer anspruchsvollere Wissensnischen entstehen, fehlen faire Bildungschancen und Fachkräfte. Wir erleben in digitalen Märkten eine starke Machtkonzentration von wenigen Konzernen, die ganze Bereiche dominieren und kleinen Anbieter*innen wenig Chancen lassen, setzen aber zunehmend auf die Innovationskraft der digitalen Transformation zur Lösung unterschiedlicher ökologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Systeme. Diese Widersprüche lassen sich nur auflösen, wenn wir neue Rahmenbedingungen für nachhaltige Innovation und Digitalisierung schaffen, wofür wir darauf angewiesen sind neue Formen der Zusammenarbeit und des Lernens zu nutzen. Die Arbeit in Netzwerken und der kollaborative Austausch zwischen unterschiedlichen Akteuren kann ein elementares Werkzeug im Umgang mit Komplexität sein und zusätzlich dazu dienen, bessere Teilhabechancen und Impact-Bedingungen für Grassroot-Akteuren herzustellen. 

    2021 untersuchten wir im Rahmen einer Studie wie zivilgesellschaftliche Akteure im Migrationsbereich mit neuen Technologien arbeiten und fanden heraus, dass sich neue Kooperationen in Form von neuen Netzwerken und sogenannten hybriden Akteuren ergaben. Diese bestanden oft aus informellen Zusammenschlüssen von Migrations- und Technologieexpert*innen, die sich in den jeweiligen Bereichen ehrenamtlich engagierten, oder ihren jeweiligen Organisationen. Solche hybriden Akteure übernahmen eine Vermittler*innenrolle zwischen verschiedenen Organisationskulturen, um eine schnellere Reaktion und einen schnelleren Austausch vor Ort zu ermöglichen. Diese neuen Kooperationen bringen nicht nur zuvor getrennte Akteure zusammen, sondern bringen auch neue Dynamiken der Zusammenarbeit hervor. Die Zusammenarbeit konzentriert sich nicht mehr auf die Projektebene, sondern ist häufig umfangreicher im Hinblick auf eine längerfristige Aufgabenteilung, den Aufbau von Fähigkeiten und Kapazitäten unter Gleichgesinnten oder die Zusammenarbeit im Ökosystem. Anstatt auf Kapazitätsdefizite mit der Schaffung neuer interner Expertise zu reagieren, ist Zusammenarbeit der Schlüssel.

    Aus diesen Formen der Kooperation lässt sich viel für andere Sektoren und Arbeitsbereiche ableiten, beispielsweise für das weitere Zusammenbringen von Akteuren und Themen zur digitalen Transformation und zur Nachhaltigkeit. So können Netzwerke als Schlüsselwerkzeug dazu beitragen, eine nachhaltige Zukunft zu gestalten indem sie neue Konzepte und Wissen effektiver teilen und Innovationen nachhaltiger skalieren. 

    große Globus Installation in einem öffentlichen Gebäude, der Globus besteht aus vielen Mosaiks

    Foto von Romain Tordo auf Unsplash

    Nicht nur in Startups und an Universitäten, auch in vielen Makerspaces und Innovation Hubs findet die Entwicklung innovativer Lösungen und Produkte statt. Im Mboa Lab in Kamerun, zum Beispiel, werden spezialisierte Enzyme, für Biotechnologieanwendungen, die keine Kühlung benötigen, entwickelt. Solche Orte bieten Zugang zu Technologien, Wissen und Netzwerken und spielen deswegen in Innovationsökosystemen vieler Länder eine entscheidende Rolle. 

    Natürlich braucht es nicht nur neue einzelne, technische Lösungen, sondern neue Systeme und grundlegende Ansätze, und starke Netzwerke, um neue Arten der Produktion, des Konsums und des Handelns zu ermöglichen und größere Transformationsprozesse zu befähigen. 

    Distributed Manufacturing oder verteilte Fertigung könnte so eine große Veränderung herbeibringen und einen entscheidenden Beitrag zur zirkulären und grünen Wirtschaft sowie zur Stärkung resilienter Lieferketten leisten. Durch digitale Fertigungsprozesse, wie 3D-Druck können Konzepte wie Distribuierte Produktion Realität werden – statt an einem Ort viele Dinge zu produzieren die dann CO2-lastig transportiert werden müssen, könnten in Zukunft viele Orte wenige Mengen produzieren, die lokal gebraucht werden. So können Überproduktion und CO2-Emissionen minimiert werden. 

    Es gibt viele Beispiele wie distribuierte Produktion bereits heute eingesetzt wird. Ein Beispiel sind hier Startups wie ItoIto, bei denen man sich einen individuellen Pullover stricken lassen kann, der lokal produziert wird, keine Lagerfläche braucht und keine Überschüsse oder Abfall erzeugt. 

    Es gibt außerdem verschiedene Plattformen mit offenen Bauplänen, wie Appropedia. Es gibt das Open Source Ecology Netzwerk, oder Communities wie Precious Plastics. Diese Plattformen und Communities arbeiten alle mit offenen Technologien. Offene Hardware und Software sowie offene Wissensressourcen und Daten sind nachhaltig, weil sie Ressourcen teilen, adaptieren und skalieren, statt immer wieder neu zu entwickeln und eine technische Grundlage für zirkuläres Wirtschaften schaffen. 

    Graffiti Kunst auf einem Haus, abgebildet ist ein Schriftzug "Together we create" mit einem Pinsel mit Farbe

    Foto von Nazarizal Mohammad auf Unsplash

    Die Initiative Bits und Bäume ist ein wichtiges Beispiel für hybride Strukturen zwischen Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsakteuren. Wie auch im Bereich Migration ist hier die Zivilgesellschaft Vorreiterin für die Entwicklung und Umsetzung innovativer Kooperationskonzepte. Die explorative Entwicklung einer gemeinsamen Agenda, sowie die unterschiedlichen Austauschformate sind ein Ausdruck der Kooperationskultur. Andere Akteure könnten von solchen Formaten lernen und von mehr Engagement in offenen Kooperationsstrukturen profitieren.

    Ein weiterer wichtiger Aspekt des Arbeitens in Netzwerken ist das offene Teilen von Wissen und Prozessen. So ist zum Beispiel Open Source eine wichtige technische Grundlage für offene, nachhaltige Kooperation und Netzwerkarbeit. Offene Schnittstellen und Interfaces ermöglichen das einfache Teilen und Adaptieren von Wissen. Offene Wissensressourcen und Kommunikationsmöglichkeiten ermöglichen gemeinsames Lernen und die Bildung gemeinsamer kultureller Grundlagen. Umso bedeutsamer ist es, die Entstehung von Ökosystemen durch die Bildung von Netzwerken zu beobachten, die sich beispielsweise im Bereich offene Hardware und nachhaltige Digitalisierung entwickeln. Es gibt verschiedene Plattformen mit offenen Bauplänen, darunter zum Beispiel Appropedia. Es gibt das Open Source EcologyNetzwerk oder Communities wie Precious Plastics. Diese Plattformen und Communities arbeiten alle mit offenen Technologien, und schaffen Grundlagen für zirkuläres Wirtschaften.

    Neben dem Austausch von Wissen in hybriden Strukturen und neuen Ökosystemen ist das Arbeiten in Netzwerken auch von zentraler Relevanz für die Umsetzung neuer, nachhaltigerer Wirtschaftskonzepte und innovativer Ansätze, die durch die Verfügbarkeit neuer Technologien möglich werden. Ob bei der Zusammenarbeit unterschiedlicher Stakeholder im Rahmen der Wasserstoff-Reallabore in Deutschland oder bei der Erprobung zirkulärer Wirtschaftssysteme braucht es die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteuren. 

    Distributed Manufacturing oder verteilte Fertigung könnte so einen großen Wandel herbeiführen und einen entscheidenden Beitrag zu einer zirkulären und grünen Wirtschaft sowie zur Stärkung resilienter Lieferketten leisten. Durch digitale Fertigungsverfahren wie den 3D-Druck können Konzepte wie die Distributed Manufacturing Realität werden – statt an einem Ort viele Dinge zu produzieren, die dann CO2-intensiv transportiert werden müssen, könnten in Zukunft, viele Orte wenige Dinge produzieren, die lokal benötigt werden. So können Überproduktion und CO2-Emissionen minimiert werden. Diese Art der Produktion in Netzwerken bewährt sich auch immer wieder in Krisenfällen, sei es bei Pandemien oder Naturkatastrophen, wo z.B. lokale Makerspaces medizinische Hilfsgüter produzieren und lokale Communities versorgen. Auch außerhalb von Krisenfällen gibt es bereits verschiedene Beispiele, wie die verteilte Produktion bereits heute eingesetzt wird. Wichtig ist auch hier die Arbeit vieler unterschiedlicher Organisationen in Netzwerken, die durch organische Arbeitsteilung gemeinsam ein Ökosystem bilden.

    zwei Personen halten einen Workshop vor einem großen Schild "MAKERSPACE"

    GIG-members having a workshop at re:publica23 – Foto von GIG auf Flickr

    Der Multi-Stakeholder Ansatz ist eine andere Art des Arbeitens in Netzwerken, das sich als Beteiligungsinstrument für komplexe politische Themenbereiche bewährt. Ein gutes Beispiel für Multi-stakeholder-Netzwerke ist FabCities, ein globales Städtenetzwerk für zirkuläres Wirtschaften. Die Vision hinter einer “Fabrication City”, kurz Fab City ist, dass eine Stadt (fast) alles, was sie konsumiert, selbst produzieren kann. Umsetzungsgrundlagen sind eine konsequente Kreislaufwirtschaft mit neuen Produktionsverfahren aus offen zugänglichen Maschinen, eine neue digitale Infrastruktur für die Stadt und eine umfassende Teilhabe der Stadtbewohner*innen. Hamburg wurde 2019 als erste deutsche Stadt Fab City. Weltweit gehören 52 Städte dem Netzwerk an, darunter zum Beispiel Boston, Augsburg, Barcelona und Paris. In Hamburg ist FabCity als gemeinnütziger Verein mit einer Vielzahl unterschiedlicher Organisationen und Mitglieder*innen aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft organisiert. Darüber hinaus wird Fab City Hamburg von der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Innovation unterstützt. Das Netzwerk ist urban und international – Fab City OS ist der Open Source Stack für den Betrieb von Städten. Ansätze wie FabCities sind wichtig, um neue Narrative zu entwickeln, wie eine nachhaltige und faire Digitalisierung unserer Gesellschaften aussehen kann und unter welchen Zielprämissen sie stattfindet.

    Eine nachhaltigere digitale Transformation braucht solche Narrative, ebenso braucht sie vielfältige Akteure, die sie umsetzen. Nicht alle Projekte sind darauf ausgerichtet marktfähigen Lösungen entwickeln, aber alle sollten die Chance haben, ihr Wissen zu teilen und ihre Ideen zu entwickeln. Gerade Grassroot Innovation und Open Source Projekte, die nicht mit Millionen an Venture Capital finanziert werden, brauchen starke Netzwerke, damit relevante neue Ansätze und Lösungen unterstützt und skaliert werden und globale Wirkung entfalten können und nicht nur Nischenlösungen für Einzelfälle bleiben. Ein Netzwerk, welches sich genau in diesem Themenbereich engagiert, ist das Global Innovation Gathering (GIG). GIG vernetzt Innovation Hubs wie Makerspaces und Open Tech Initiativen, die in erster Linie für lokale Communities arbeiten und dabei lokal relevante Innovationen entwickeln.

    In unserer Big-Tech- und plattformdominierten Digitalwirtschaft brauchen wir vielleicht nicht „the next big thing“, um ein Gegengewicht oder neue, nachhaltigere, innovativere und gerechtere Räume zu schaffen. Vielleicht brauchen wir stattdessen „many connected small things“. Federated Web und Open-Source-Technologien können hierfür die Grundlagen bieten.

  • Digitale Kultur und internationale Projekte

    Bildschirmfoto des Spiels Animal Crossing von Joshua Wong via X

    Digitale Kultur und internationale Projekte

    In unserem Kulturimpuls präsentieren wir spannende Projekte, Künstler*innen, Spiele und vieles mehr rund um digitale Kultur und gesellschaftlichen Wandel. Dieses Mal geht es um Netzkunst, starke Netzwerke, Internetkulturen und Gaming und die Bedeutung ihrer Verflechtung.

    The Medium is the Message“: Post-Internet-Kunst & Marisa Olson

    Die These „The medium is the message” stammt von dem Medientheoretiker Marshall McLuhan und ist für die Interpretation der Netzkunst bedeutend. Der Satz spielt darauf an, dass die Form und der Inhalt von Netzkunst immer von den technischen Gegebenheiten des Mediums beeinflusst sind und damit die Wirklichkeit verändern können. Die Netzkunst vereint unterschiedliche Werke, die in digitalen, aber auch in analogen Netzen geschaffen werden. Diese Kunstform wird also erst durch die Nutzung dieses Netzes möglich. 

    Im Jahr 2014 wurde in der internationalen Kunstszene der Begriff „Post-Internet-Art“ prominent. Bezeichnend für diese Bewegung ist unter anderem die Umwandlung von virtuellen Inhalten in handfestes Material. So werden beispielsweise vermehrt Online-Objekte mit dem 3D-Drucker offline wieder greifbar gemacht. Doch was hat es mit dieser Rückbesinnung auf das Materielle auf sich? 

    Der Begriff „Post-Internet“ wurde maßgeblich von Marisa Olson im Jahr 2008 geprägt. Das „Post“ in Post-Internet-Art meint die Kunst, die aus dem Internet entspringt und meist von Digital Natives geschaffen wird. Kunst also, die bereits unser Alltag ist und nicht schon „post”, also vorüber ist. Kurator und Architekturhistoriker Carson Chan beschreibt die Post-Internet-Art als einen „Internet State of Mind“, also als Kunst, die nicht unbedingt mit oder für das Internet geschaffen wird, sondern vielmehr als ein vom Internet beeinflusstes Denken. In ihrer Performance WellWellWell beschäftigt sich Olson beispielsweise mit dem Leben in der „Post-Internet-Ära“. Mit Hilfe von internetbasierten Videos und Live-Motivationstrainings stellt Olson einen Guru-ähnlichen Kult nach. Die Videos zeigen, wie digitale Technologien Stress auslösen, aber auch abbauen können. Laut Brad Troemel unterscheidet sich die Post-Internet-Art von der Netzkunst der 1990er Jahre in dem Sinne, dass sie das Internet nicht mehr als Tor zur Zukunft, sondern als Archiv und Treiber seiner eigenen Obsoleszenz begreift. 

    Der Transfer von digitaler Kunst in physische Räume und zurück, etwa durch Fotografien materieller Kunstwerke, die wieder ins Netz gestellt werden, zeigt, wie die Grenzen zwischen digitaler und physischer Welt verschmelzen und wie genau dies einen Teil unseres Alltags widerspiegelt. 

    Website mit Pop-Art-Illustrationen und Video-Tutorials von Marinas Olson

    Bildschirmfoto von Marinas Olsons wellwellwell.guru (2018)

    Ushahidi: Netzwerke im Katastrophenschutz

    Im Jahr 2008 ins Leben gerufen, entstand Ushahidi mit dem Ziel, Gewaltverbrechen während der Unruhen in Kenia zu dokumentieren und geografisch zu verorten. Die Open-Source-Plattform, deren Name auf Swahili “Zeugenaussage” bedeutet, ermöglicht es Nutzer*innen von lokalen Gemeinschaften bis hin zu internationalen Organisationen, Daten in Form von Texten, Bildern und Videos hochzuladen. Diese Informationen werden dann auf einer interaktiven Karte dargestellt und können mithilfe verschiedener Tools analysiert werden, um räumliche Zusammenhänge und die Verbreitung von Ereignissen zu verstehen.

    Ushahidi nutzt Crowdsourcing effektiv, um Krisen zu dokumentieren und darauf zu reagieren, indem es verschiedene Akteure einbindet, Informationsflüsse intensiviert und Ressourcen koordiniert. Aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit kann die Plattform in den unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt werden, sei es bei Naturkatastrophen wie dem Erdbeben in Haiti 2010, Gesundheitskrisen wie der Corona-Pandemie oder politischen Unruhen wie denen in Kenia oder dem syrischen Bürgerkrieg.

    Durch die Vielfalt der Informationsquellen und ihre Zugänglichkeit für jede*n ermöglicht Ushahidi ein transparenteres Bild von undurchsichtigen Situationen und gibt marginalisierten Personen eine Stimme. Es ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie Technologie und Gemeinschaftsengagement Hand in Hand gehen können, um positive Veränderungen in der Welt zu bewirken.

    Ushahidi demonstriert die Kraft von Gemeinschaften und Netzwerken im Krisenmanagement. In einer zunehmend vernetzten Welt zeigt es, wie gemeinsame Anstrengungen und die effektive Nutzung von Daten dazu beitragen können, humanitäre Notfälle zu bewältigen und auf Krisen zu reagieren.

    Geografische Karte mit eingezeichneten roten Punkte, die Erdbeben in Haiti 2010 darstellen

    Bildschirmfoto der Karte des Haiti Project auf ushahidi.com


    Information wo sie gebraucht wird: NetFreedom Pioneers

    In einer Zeit, in der der der Digital Divide zunehmend tiefer wird und gerade in Krisengebieten viele Menschen unter mangelnder Bildung, Zensur oder fehlendem Zugang zum Internet leiden, setzt sich NetFreedom Pioneers entschieden dagegen ein. Ihre Vision ist es, selbst den entlegensten Gemeinschaften und Minderheiten den Zugang zu Informationen, Bildungsmaterialien und Online-Netzwerken zu ermöglichen.

    Ein Instrument, mit dem NetFreedomPioneers diese digitale Kluft überwinden möchte, ist die Knapsack Content Station. Diese Plattform dient als Offline-Internetzugang und soll auch abgelegene und infrastrukturell vernachlässigte Gebiete mit wichtigen Informationen versorgen.

    Durch den Einsatz kostengünstiger, handelsüblicher Komponenten und weit verbreiteter Free-to-Air-Satellitenschüsseln ermöglicht die Knapsack Content Station den Zugang zu hochwertigen Bildungsmaterialien auch in traditionell unterversorgten Gemeinschaften. Während ein immer größerer Teil der Welt von den Vorteilen des Internetzugangs für die Bildung profitiert, wird die Kluft zwischen denen, die Zugang zu Informationen haben, und denen, die keinen Zugang haben, immer größer. Die Knapsack Content Station will diese Kluft überbrücken.

    In Zeiten von Krisen und politischer Instabilität ist der Zugang zu aktuellen Informationen und die Möglichkeit zur Vernetzung lebenswichtig. NetFreedom Pioneers widmet sich mit ihrer innovativen Arbeit der dringenden Aufgabe, digitale Barrieren zu überwinden und zeigt damit einmal mehr die entscheidende Bedeutung von Netzwerken auf.

    NASA Ansicht einer vernetzten, beleuchteten Stadt

    Foto von NASA auf Unsplash


    Animal Crossing, Counterstrike, Minecraft: Wenn Videospiele zu aktivistischen Plattformen werden

    Aktivismus und Protest im digitalen Raum sind längst keine Neuheit mehr. Doch nicht nur in sozialen Netzwerken mobilisieren sich Communities, um gemeinsam gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen. Von virtuellen Graffiti-Aktionen bis hin zu In-Game-Demonstrationen nutzen Spielende auf der ganzen Welt Videospiele, um politische Botschaften zu verbreiten und auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen.

    Ein frühes Beispiel für diese Form des digitalen Aktivismus sind die Velvet Strikes aus dem Jahr 2002. In Counter-Strike ermutigte eine von Aktivist*innen entwickelte Mod Spielende dazu, Anti-Kriegs-Graffiti an die Wände der Spielwelt zu malen. Diese Aktionen sollten die Spielenden dazu anregen, über die realen Auswirkungen von Krieg und Gewalt nachzudenken und eine öffentliche Diskussion darüber anzustoßen.

    Auch zur Umgehung von Zensur haben sich Videospiele als bewährt. Eine der wohl bekanntesten politischen Aktionen innerhalb eines Computerspiels ist die Uncensored Library. Die virtuelle Bibliothek, die 2020 anlässlich des Welttags gegen Internetzensur in Minecraft erstellt wurde, beherbergt Informationen und Berichte, die in autoritären Regimen zensiert sind. Durch die Nutzung von Gaming als Plattform konnten die Ersteller*innen der Uncensored Library einen sicheren und zugänglichen Raum für Meinungsfreiheit schaffen und gleichzeitig auf die Bedeutung der Pressefreiheit hinweisen.

    Die jüngsten Proteste in Hongkong haben gezeigt, wie Gaming als Form des politischen Widerstands genutzt werden kann. In dem beliebten Spiel “Animal Crossing: New Horizons” haben Spielerinnen und Spieler ihre Inseln in Orte des Protests verwandelt., indem sie Slogans, Plakate und Demonstrationsorte in das Spiel integrieren. Diese virtuellen Proteste dienten nicht nur dazu, auf die Situation in Hongkong aufmerksam zu machen, sondern auch als Ausdruck des Widerstands gegen autoritäre Regierungen und Unterdrückung. Das darauffolgende Verkaufsverbot des Spiels in chinesischen Online-Shops zeigt die weitreichenden Folgen eines solchen In-Game-Protestes.

    Die zunehmende Nutzung von Gaming als Protestform verdeutlicht die vielfältigen Möglichkeiten, die digitale Medien bieten, um politische Botschaften zu verbreiten und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Von virtuellen Graffiti-Aktionen bis hin zu In-Game-Demonstrationen bieten Videospiele eine einzigartige Plattform für politischen Aktivismus, die von Menschen auf der ganzen Welt genutzt wird, um für ihre Rechte einzutreten und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen.

    Screenshot aus dem Spiel Animal Crossing: New Horizon mit Protestaktion: Free Hong Kong Revolution Now

    Bildschirmfoto des Spiels Animal Crossing von Joshua Wong via X

  • Warum die Visapolitik Deutschlands das Gegenteil feministischer Außenpolitik ist

    Foto von CovertKit auf Unsplash

    Warum die Visapolitik Deutschlands das Gegenteil feministischer Außenpolitik ist

    (It’s not feminism if you can’t get a visa as a woman, stupid!)

    Seit 10 Jahren organisiere ich internationale Zusammenkünfte von Digitalisierungs-Expert*innen aus unterschiedlichsten Weltregionen im Kontext der re:publica, sowie deren Auftritte als Sprecher*innen auf der re:publica. Als eine von Europa’s größten Veranstaltungen zu Digitalisierung und Gesellschaftsthemen, ist die re:publica Aushängeschild der Hauptstadt, wenn nicht der Republik in Sachen Digitalisierung und fungiert als öffentlicher Diskursraum für Digitalisierungs- und Zukunftsdebatten. Es gab kein re:publica Jahr ohne negative Erfahrungen mit deutschen Botschaften beim Versuch, Menschen aus Ländern des Globalen Südens einzuladen, insbesondere Frauen.

    Vor neun Jahren wurde Harinjaka, ein Mitglied des Netzwerks Global Innovation Gathering, und späterer Ministeriumsmitarbeiter aus Madagaskar auf dem Weg zur re:publica am Flughafen Charles de Gaulle in Paris verhaftet und drei Tage lang in Abschiebehaft gesteckt. Die Begründung: Er hatte zwar ordnungsgemäß sein ausgestelltes Schengen-Visum, seinen von uns ausgestellten Einladungsbrief mit Garantie zur Kostenübernahme, seinem Rückflugticket und seinem Eintrag als Speaker auf der re:publica Website ausgedruckt dabei; aber die Hotelreservierung, die konnte er nur digital vorzeigen. Täglich boten ihm Beamte am Flughafen an, er könne direkt problemlos zurückfliegen. Er wollte allerdings zur re:publica und wartete drei Tage in seiner Abschiebezelle, bis der damalige Menschenrechtsbeauftragte des AA, Markus Löning, intervenierte. Kurz danach wurde Harinjaka freigelassen und durfte zur re:publica weiterreisen. Am letzten Tag der Veranstaltung hatte er seinen Bühnenauftritt. 

    Seitdem haben wir als einladende Organisation viel gelernt. Wir wissen, was passieren kann, wenn nur ein Schriftstück in einer Mappe von Antragsdokumenten fehlt oder unklar formuliert ist. Auch politisch ist seitdem viel passiert. Wir haben eine Außenministerin mit dem Anspruch, eine neue Ära der feministischen Außenpolitik einzuleiten. Die brauchen wir. Sie muss aber auch eine transparentere, fairere und feministische Visapolitik beinhalten. Hier hat sich nämlich in den letzten zehn Jahren sehr wenig verändert. Europa, insbesondere Deutschland, tut sein Bestes, potenzielle Fachkräfte, Partner*innen und inspirierende Innovator*innen davon abzuhalten, hierherzukommen – insbesondere wenn sie weiblich sind.  

    Eine Reihe intransparenter, veralteter Verfahren und Prozesse kennzeichnet die aktuelle Visapolitik der Bundesrepublik Deutschland, angefangen mit der Terminvergabe. In vielen Ländern funktioniert die Terminvergabe ungefähr so gut wie die der Berliner Bürgerämter – es ist schwer, an einen Termin zu kommen. So schwer, dass sich in Ländern wie dem Irak ein Schwarzmarkthandel entwickelt hat und Visatermine so gut wie ausschließlich über diesen Weg für mehrere hundert Dollar ergattert werden können. In manchen Ländern wie Ägypten sind kostenpflichtige telefonische Vergabeservices von Drittanbietern zwischengeschaltet, die sowohl Geld als auch die Daten der Visa-Antragstellenden abgreifen. 

    Eine Flughafen Abflugsanzeige

    Foto von CHUTTERSNAP auf Unsplash

    In zahlreichen Ländern akzeptieren die deutschen Botschaften nach wie vor keine E-Mails oder elektronisch übermittelten Dateien. Sie fordern stattdessen, dass z.B. nachzureichende Schriftstücke per Post zugesendet werden – in Ländern, in denen die Postzustellung oft nicht nur sehr teuer, sondern auch unzuverlässig ist, sodass dadurch erhebliche Zeit- und Kostenaufwände entstehen und der Prozess Risiko-anfälliger wird. Oft fragt man sich, ob hierdurch das Außengeschäft von DHL gefördert werden soll oder warum sonst moderne Kommunikationsmedien mit einer solchen Beharrlichkeit ignoriert werden. 

    Hat man erst mal einen Termin, wird man nicht unbedingt als Geschäftsreisende*r, sondern eher als potenzieller Flüchtling behandelt. Vor allem junge Frauen berichten immer wieder von verhörartigen Interviews, bei denen Fragen zum Familienstand und zum Heiratsinteresse eher die Norm als die Ausnahme sind. 

    Dies war dieses Jahr der Fall für eine Person aus dem Irak. Sama ging zusammen mit ihrem männlichen Kollegen zum Termin in die Botschaft. Am Ende des Gesprächs fragte der Interviewpartner, ob sie verheiratet sei. Als sie dies verneinte, meinte er, sie hätte sehr schlechte Chancen ihr Visum zu bekommen. Wir reagierten, indem wir auf ihren Wunsch ein extra Schreiben an die Botschaft sendeten, in dem nochmals ausdrücklich von uns garantiert wurde, dass sie aus professionellen Gründen nach Deutschland reisen möchte, dass wir alle Kosten und die Verantwortung für ihre Rückreise in den Irak übernehmen. In diesem Fall hatten wir Glück und ihr Visum wurde ausgestellt. Anders war es leider bei Bezawork aus Äthiopien. Ihr Visumantrag wurde abgelehnt, mit der Begründung, unsere Dokumentation habe nicht ausgereicht und die Sorge bestünde, sie könne sich den Aufenthalt nicht leisten, beziehungsweise würde nicht in ihr Land zurückkehren. Daher durfte die Leiterin des FabLabs an der Universität in Bahar Dar nicht kommen, obwohl sie mit unserem Einladungsschreiben, einer Hotelbestätigung und allen anderen Dokumenten ausgestattet war, die der Botschaft hätten diese Sorge nehmen können. Auf unseren Einspruch hierzu erhielten wir keinerlei Antwort. In den meisten Fällen wird eine Ablehnung gar nicht erst begründet. Das Muster ist jedoch meistens dasselbe: Unverheiratete Frauen haben es wesentlich schwerer als ihre männlichen Kollegen, ein Visum zur Einreise nach Deutschland zu erhalten, um Geschäftsreisen anzutreten oder Konferenzen zu besuchen. Natürlich leiden auch männliche Personen unter der intransparenten und restriktiven Visapraxis. Und ebenso Deutschland und Europa – denn die Politik der Festung Europa in den Visaabteilungen der deutschen Botschaften fortzusetzen ist ein falscher, nicht zukunftsfähiger Ansatz. 

    Wie lange können wir uns diese Visapolitik leisten? Dass Deutschland und Europa vor allem im IT-Bereich unter einem Fachkräftemangel leiden, ist schon lange klar und wird immer akuter. Dass wir hier nicht die Vorreiter in digitaler Innovation sind, sondern von inspirierenden Beispielen aus aller Welt lernen könnten auch. Darüber hinaus haben Europa und Deutschland ein Interesse an neuen Bündnispartnern im Zuge sich verschiebender, geopolitischer Allianzen, sowie im Kontext des europäischen Versuchs, einen regulativen, menschenrechtszentrierten Ansatz der Digitalisierung in Europa zu etablieren, der auch in andere Regionen der Welt ausstrahlt. Hierzu braucht es Gespräche, Begegnungen, Austausch und das Verständnis, dass uns Menschen aus anderen Ländern nicht immer nur unseren Wohlstand wegnehmen wollen, sondern einen wesentlichen Beitrag leisten können, diesen für zukünftige Generationen zu erhalten.