Interview Superrr
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Superrr
#Digitalpolitik
#Feminismus #Zukünfte
Photo von Muhammad Salah
Interview mit Superrr
Für die zweite Ausgabe von Konnektiv_Impuls freuen wir uns, die feministische Organisation Superrr zu begrüßen. Neben dem Fokus auf die Erforschung alternativer Zukünfte und sozialer Auswirkungen neuer Technologien, setzt Superrr auf interdisziplinäre Zusammenarbeit und den Aufbau von Netzwerken. Ihre Vision ist es, gerechtere und inklusivere Zukünfte zu gestalten. In diesem Interview erfahren wir mehr über ihre Expertise in feministischen digitalen Zukünften, Gedanken zur deutschen Digitalpolitik und zu postkolonialer Machtungleichgewichten. Willkommen!
Die deutsche Regierung verfolgt in ihrer Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit zunehmend feministische Agenden. Was sollte eine intersektionale feministische Digitalpolitik beinhalten und was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Elemente?
In Anlehnung an die feministische Außenpolitik überschreitet eine feministische Digitalpolitik die Grenzen aktueller digitalpolitischer Perspektiven und nimmt eine proaktive, intersektionale Haltung ein. Feministische Digitalpolitik steht für einen Paradigmenwechsel: weg von “höher, weiter, schneller” hin zu “nachhaltiger, gerechter und menschenzentrierter”. Sie richtet ihre Prioritäten nach sozialen, nicht nur wirtschaftlichen Bedürfnissen aus. Durch eine intersektionale feministische Linse werden soziale Fragen wie Zugang, Mitgestaltung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit angesprochen. Wenn es uns gelingt, die Perspektiven der Digitalpolitik auf diese Weise zu verändern, wird sie eine ganz andere Wirkung erzielen: Sie hat das Potenzial, Ungleichheiten nicht nur auf gesellschaftlicher, sondern auf globaler Ebene abzubauen.
Es gibt einen entscheidenden Aspekt, der unserer Meinung nach nicht genügend Beachtung findet: Feministische Digitalpolitik ist ein (Lern-)Prozess und keine Programmatik. In diesem herausfordernden, sich ständig verändernden Politkumfeld müssen wir unsere Methoden kontinuierlich bewerten, lernen und verbessern. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Digitalpolitik: Mit dem selbsterklärten Ziel, einen globalen Effekt zu erzielen, muss Digitalpolitik auch global diskutiert und international gedacht werden, anstatt die Interessen einzelner Nationalstaaten zu verfolgen. Eine feministische Sichtweise kann dabei helfen, diesen lange antrainierten Reflex zu überwinden und radikal andere Politikansätze anzuwenden, welche den Menschen, denen sie dienen sollen, ermächtigen und schützen.
Wie sieht Ihrer Meinung nach diese Agenda in der deutschen Digitalpolitik aus und gibt es Widersprüche?
Leider beschränkt sich die deutsche Digitalpolitik sehr auf das vermeintliche geopolitische Wettrennen mit China und den USA. Dieses Narrativ schürt die Angst, dass Europa abgehängt und isoliert wird und wirtschaftlich im Nachteil ist. Deshalb beschränkt sich Digitalpolitik in Europa häufig darauf, auf Entwicklungen in anderen Ländern zu reagieren, statt eigene Leitbilder zu entwickeln und sich auf eigene Stärken zu besinnen. Der Fokus auf beispielsweise China und die USA verstellt außerdem den Blick darauf, dass Digitalthemen eben global sind und wir gerade deshalb breite Allianzen brauchen statt ein Wettrennen. Für uns ist die Idee, dass wir als Gesellschaft um jeden Preis mit jedem neuen technischen Hype mithalten müssen oder schneller sein müssen als andere, ist mit vielen Nachhaltigkeitszielen und sozialpolitischen Ansprüchen nicht vereinbar. Angst ist nie ein guter Ratgeber.
Es gibt aber auch Hoffnungsschimmer: die Digitalstrategie der Bundesregierung Deutschland von 2022 legt fest, dass sie sich vermehrt mit Machtstrukturen und Denkansätzen wie der feministischen Digitalpolitik auseinander setzen will, um die Risiken und Gefahren der digitalen Transformation besser zu verstehen. Bisher sehen wir dazu nicht wirklich viel, das sich bewegt. Umso mehr ist es ein Ansporn für uns, endlich mehr politisches Handeln einzufordern.
Welche Rolle kann die organisierte Zivilgesellschaft in Deutschland potenziell spielen, um eine wirklich intersektionale feministische Gestaltung und Umsetzung digitaler Politik in Deutschland zu fördern?
Politik ist von Natur aus reformistisch. Sie ist meistens nicht in der Lage, die Institutionen, in denen sie praktiziert wird, grundlegend zu verändern und zu transformieren. Ein echter Wandel der politischen Institutionen, insbesondere in Richtung eines intersektionellen feministischen Ansatzes, kann nur stattfinden, wenn die Zivilgesellschaft diesen Wandel vorantreibt und zeigt, wie er umgesetzt werden kann. Andererseits ist die organisierte Zivilgesellschaft nicht unbedingt progressiv, geschweige denn intersektional feministisch. Aber eine intersektionale Allianz von Akteur*innen der Zivilgesellschaft, die progressive Ziele und Werte teilen und ihre Expertise in die Formulierung besserer politischer Forderungen einbringen, kann eine mächtige Bewegung sein. Sie kann nicht nur aufzeigen, wo Politik Ungerechtigkeiten schafft, sie kann auch glaubhaft eine Vision von einer gerechten Welt vermitteln und wie wir sie gemeinsam erreichen können.
Grafik von superrr.net
Wie trägt die Arbeit von Superrr Lab zu einer intersektionalen feministischen Digitalpolitik in Deutschland bei? Was sind die verschiedenen Aspekte und Projekte, an denen Sie arbeiten?
Unser Ziel ist es, wünschenswerte Zukünfte zu gestalten, in denen nicht die Gesellschaft digital transformiert wird, sondern die Digitalisierung ihren Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation eistet. Wir tun dies durch drei Hauptsäulen unserer Arbeit:
Erstens unterstützen wir durch unsere Fellowship-Programme „Muslim Futures“ und „Risktakers“Einzelpersonen und erforschen Zukunftserzählungen. Diese Einzelpersonen und kleinen Teams erforschen Erzählungen von den Rändern – Projekte und Ideen, die noch nicht zum Mainstream gehören, aber für ihre Communities wichtig sind, wenn es darum geht, ihre Zukunft aktiv zu gestalten. Ein Beispiel aus dem jüngsten Fellowship ist ein Online-Comic-Magazin, das eine feministische und integrative Vision für die Zukunft des Internets im Nahen Osten und Nordafrika (MENA) vorschlägt. Shatha und Sereen, die als Fellows an diesem Projekt arbeiten, stammen aus Palästina und sind Teil der queeren Gemeinschaften in ihrer Region.
In unserer Forschungsarbeit untersuchen wir die sozialen Auswirkungen von Technologie, indem wir uns ansehen, wie technologische Folgenabschätzungen durchgeführt werden oder wie Zukunftsforschungsmethoden intersektional gestaltet werden können.
In unserer feministischen Lobbyarbeit hinterfragen wir die Macht und den Zweck von Technologie in der Gesellschaft, indem wir mit Politikern oder Ministerien zusammenarbeiten, öffentliche Veranstaltungen organisieren oder unsere Website zu feministischen Ansätzen in der Technologiepolitik veröffentlichen.
Die Vergangenheit anzuerkennen ist ein wichtiger Teil der Arbeit an der Zukunft, die wir wollen. Was ist Ihrer Meinung nach die Rolle, die politische Entscheidungsträger und die Zivilgesellschaft bei der Beseitigung postkolonialer Machtasymmetrien spielen (sollten), insbesondere wenn es um die Macht über Daten geht?
Digitalpolitische Vorhaben in Deutschland oder der EU haben immer globale Auswirkungen oder sogar den expliziten Anspruch, global wirksam zu sein. Zudem werden sie in einem post-kolonialen Kontext geplant und umgesetzt, was es Europa ermöglicht, von seiner Vormachtstellung zu profitieren. Deshalb sollen Akteur*innen der Digitalpolitik ihre Handlungen in einem globalen Kontext bewerten, Solidarität beweisen und dafür Sorge tragen, das Machtgefälle zu verkleinern.
So muss eine feministische digitale Außenpolitik auf eine digitale Infrastruktur hinarbeiten, die nicht auf ausbeuterische Arbeit und eine extraktive Wirtschaft im globalen Süden angewiesen ist. Doch die sozial-ökologischen Auswirkungen digitaler Technologien wurden lange Zeit übersehen. KI-Systeme benötigen große Mengen an hochwertigen Trainingsdaten, um zu funktionieren und um sich zu verbessern. Diese Daten werden in der Regel von menschlichen Datenarbeiter*innen bearbeitet, die Aufgaben wie Datenbereinigung, -kommentierung und -kategorisierung übernehmen. Ein Großteil dieser Arbeit wird in Länder mit niedrigen Löhnen ausgelagert, wo die Arbeiter*innen unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen arbeiten. Im Rahmen unserer feministischen Digitalpolitik haben wir mit Content-Moderator*innen in Deutschland und Kenia zusammengearbeitet. Ihre Stimmen sind wichtig, wenn es um politische Debatten geht. Sie müssen Teil der politischen Diskussionen über KI und Arbeit sein.
Ein Großteil Ihrer jüngsten Arbeit konzentriert sich auf die Arbeitsbedingungen für Moderatoren von Social-Media-Plattformen. Könnten Sie kurz beleuchten, warum es notwendig ist, die prekären Arbeitsbedingungen zu thematisieren und sich für den Schutz der Rechte dieser besonderen Arbeitnehmergruppe aus einer dekolonialen intersektionalen feministischen Perspektive einzusetzen?
Zu wenige Menschen wissen, dass Content Moderator*innen quasi die Ersteinsatzgruppe der sozialen Medien sind; sie schützen den Rest von uns vor gewalttätigen Inhalten. Sie sehen sich Videos von Mord, Vergewaltigung, Selbstmord und sexuellem Kindesmissbrauch an – damit wir das nicht müssen. Sie arbeiten in dunklen Räumen. Ihre Arbeitgeber*innen wollen nicht, dass man sie sieht, aber sie sitzen hinter den Kulissen und genießen kaum Schutz und Anerkennung. Die Belastung für das Leben der Content-Moderator*innen ist zu hoch, und der Schutz und die Bezahlung sind zu gering. Ein Content-Moderator sagte uns: “Big Tech wird auf dem Rücken der gebrochenen afrikanischen Jugend aufgebaut.” Die meisten Moderator*innen arbeiten in Ländern, die zur globalen Mehrheit gehören, oder kommen aus solchen Ländern.
Und das ist der Grund, warum wir als intersektionelle feministische Organisation gegen die Ausbeutung von Content-Moderator*innen kämpfen müssen. Diese Überschneidungen von Ungerechtigkeiten machen uns wütend und zeigen, dass die Art und Weise, wie die Digitalisierung derzeit funktioniert, für die ganz wenigen und die ganz Reichen funktioniert. In unserem Verständnis einer feministischen Perspektive müssen die Folgen der Digitalisierung für die gesamte Gesellschaft global bewertet werden – im Kontext der bestehenden Ungleichheiten. Auf dieser Basis sollen Entscheidungsträger*innen Maßnahmen priorisieren, die denjenigen nutzen, die am negativsten von den Auswirkungen der Digitalisierung betroffen sind. Dieser Prozess, der sich an der Leitlinie „from the Margins to the Center“ orientiert, würde bedeuten, die Moderator*innen in das Zentrum der Entscheidungsfindung zu rücken.
Wir bedanken uns bei dem Team für das tolle Gespräch!